„Massiv frustriert“: Stimmung bei Bürgermeistern im Kreis Höxter ist auf dem Tiefpunkt

Kreis Höxter. &bdquo;Ich bin massiv frustriert.“ Mit diesen Worten holte der Bürgermeister Jörg Bierwirth zu einem Rundum-Schlag aus und kündigte an, sich nicht wieder auf den Chefposten der Stadt Schieder-Schwalenberg zu bewerben. Der 57-Jährige erklärte, zu tief enttäuscht zu sein von der Bundes- und Landespolitik. Er finde es unerträglich, zu sehen, wie die kommunale Familie unter den Auswirkungen dieser Politik leiden müsse. &bdquo;Die Kommunen bluten finanziell aus, sie werden mürbe gemacht und leiden unter einem Burnout.“ Das Schlimmste: Es gebe keine Perspektive, Besserung sei nicht in Sicht. (Lesen Sie seine Begründungen im Wortlaut am Ende dieses Artikels). Deshalb schmeißt er hin. Worte, die an Deutlichkeit nichts vermissen lassen. Seine Kollegen im Kreis Höxter auf der anderen Seite der Niese reagieren mit großem Verständnis auf den Rundumschlag und geben auf &bdquo;NW“-Anfrage einen kleinen Einblick in ihr Seelenleben. Daniel Hartmann, Höxter &bdquo;Mir spricht der Kollegen Bierwirth mit seiner Kritik deutlich aus dem Herzen“, sagt Höxters Bürgermeister Daniel Hartmann. &bdquo;Seinem Kritikpunkt, dass die Kommunen finanziell ausbluten und es aktuell keine Perspektive auf Besserung gebe, kann ich voll zustimmen.“ Hartmann räumt ein, dass auch Höxter einen Konsolidierungsbeitrag leisten müsse. Aber egal, was gestrichen würde, &bdquo;das wird nicht reichen, um uns Perspektiven zu schaffen, um den Modus ,Notstand verwalten’ verlassen zu können“. Noch nie sei die Situation so bescheiden gewesen. Ihm ist aber noch ein ganz anderer Aspekt wichtig, der ihm zu schaffen macht. Denn auch die politische Kultur und die politische Diskussion seien deutlich schlimmer geworden. Die Menschen schienen immer weniger kompromissfähig. &bdquo;Man hat das Gefühl auf fast allen Ebenen, dass wir ein geteiltes Land sind, gegensätzliche Positionen nicht mehr akzeptiert oder respektiert werden“, sagt Hartmann. Ans Aufgeben hat er nach eigenem Bekunden aber noch nie gedacht. &bdquo;Dafür liegt mir die Stadt viel zu sehr am Herzen.“ Und doch warnt er eindringlich: &bdquo;Für mich steht fest, dass, wenn die Gemeinden durch die unzureichende Finanzausstattung zukünftig gezwungen werden, die notwendige Infrastruktur wie Schwimmbäder, außerschulische Sporthallennutzung, Spielplätze und anderes abzuschaffen oder aber Grundsteuern in astronomischer Höhe erheben müssen, um den Finanzkollaps zu vermeiden, dann wird es bald keine ehrenamtlichen Kräfte mehr geben, die sich für die politische und gesellschaftliche Arbeit vor Ort zur Verfügung stellen. Oder aber das Feld wird den radikalen Kräften überlassen, die im Grunde keiner haben will.“ Johannes Schlütz, Nieheim &bdquo;Ich war tatsächlich überrascht, dass Herr Bierwirth in dieser Deutlichkeit und so offen Kritik an Bund und Land übt. Er hätte sich den Ausstieg sicherlich einfacher machen können, will aber nach meinem Empfinden noch mal ein deutliches Signal senden, was ihm auch vollends gelingt“, kommentiert Nieheims Bürgermeister Johannes Schlütz den Rundumschlag. Auch er fürchtet, dass &bdquo;wir definitiv ein gesellschaftliches Problem bekommen werden, wenn die Stimmung in den Kommunen erst vollends gekippt ist, weil die Bürgerinnen und Bürger vor Ort zum Beispiel zu spüren bekommen, dass die Kommunen nicht mehr investieren können und die Infrastruktur infolgedessen immer anfälliger wird.“ Er fordert einen massiven Abbau von Bürokratie, ist aber wenig optimistisch. &bdquo;Mir macht es große Sorgen, dass zwar allerorten darüber geredet wird, aber niemand den Mut hat und die Verantwortung übernehmen möchte, tatsächlich deutliche Einschnitte in unserem Verwaltungswesen vorzunehmen. Bürokratieabbau ist für mich zum Unwort der letzten Jahre geworden.“ Lesen Sie auch: Wie die Stadt Nieheim den Finanzkollaps verhindern will Ans Aufgeben hat er hingegen noch nie gedacht. Er gehe nie den Weg des geringsten Widerstandes und sei gleichzeitig immer Optimist. &bdquo;Ich habe entsprechend auch noch große Hoffnung, dass unsere Politiker in Bund und Ländern spätestens nach der Bundestagswahl einen Stimmungsaufschwung an allen Ecken erzeugen können.“Das gelinge aber wiederum nur, wenn sich die demokratischen Parteien zusammenraufen. Und auch er hat einige Wünsche an die &bdquo;große Politik“. So passe die Schuldenbremse nicht mehr in die Zeit. &bdquo;Schuldenmachen ist aus meiner Sicht überhaupt kein Problem, wenn das Geld langfristig und sinnvoll investiert wird. Schuldenmachen wird aber dann zum Problem, wenn der überbordende Sozialstaat damit zu großen Teilen finanziert werden muss“, meint Schlütz. Der Sozialstaat stehe in keinem Verhältnis mehr zur absehbaren Wertschöpfung des Landes, womit er nicht mehr finanzierbar sei, so seine These. Das könne Deutschland in die Knie zwingen. &bdquo;Den Fehler, das Land von oben nach unten kaputt zu sparen, haben wir tatsächlich auch schon zum Ende der Weimarer Republik gemacht – mit den uns allen bekannten, verheerenden Folgen. Das scheint einigen Politikern in Berlin gar nicht bewusst zu sein.“ Hubertus Grimm, Beverungen Den Kopf in den Sand stecken will der Beverunger Bürgermeister Hubertus Grimm nicht. Aber auch der schätzt wie Jörg Bierwirth, die Finanzlage der Kommunen nehme bedrohliche Züge an. &bdquo;Aktuell stellen wir den Haushalt für 2025 auf und starten mit rund einer Million Euro weniger Schlüsselzuweisungen vom Land und rund 1,5 Millionen Euro mehr an Kreisumlage“, berichtet Grimm. Das gehe in diesen Größenordnungen nun schon seit einigen Jahren so. &bdquo;Das können wir nicht mehr durch Einsparungen oder Steuererhöhungen auffangen.“ Neben der deutlichen Erhöhung des Verbundsatzes erwartet er endlich eine klare Prioritätenfestlegung des Landes, was man sich noch leisten will und was nicht. &bdquo;Zudem haben wir viele gut gemeinte Standards in Deutschland festgelegt, die aber nicht mehr bezahlbar sind. Hier muss man dringend ran“, so Grimm. In Beverungen habe man immer darauf gesetzt, in erster Linie die vorhandene Infrastruktur zu erhalten. &bdquo;Das muss auch zukünftig unser Ziel sein. Und daran arbeiten Rat, Verwaltung und Bürgermeister jeden Tag aufs Neue.“ Und wenn dann nach langen Planungen die Projekte wie zuletzt das Freibadumkleidegebäude, die Feuerwehrgerätehäuser in Amelunxen und Dalhausen oder demnächst die Weserufer in Wehrden und Herstelle fertig werden, &bdquo;macht das auch Freude“. Carsten Torke, Steinheim &bdquo;Bierwirth spricht mir mit dem ein oder anderen Punkt vollkommen aus dem Herzen“, sagt Steinheims Bürgermeister Carsten Torke. Seit der Pandemie sei – nicht nur politisch, sondern gesamtgesellschaftlich – nichts mehr, wie es war. Das Thema Kommunalfinanzen sei das zentrale. &bdquo;Wenn nicht etwas am Verbundsatz getan wird, stellen wir uns die Frage, wie es weitergehen soll.“ Wie alle Städte müssten auch Land und Bund die Einnahmen- und Ausgabenseite genau durchleuchten. Auch Torke sieht, wie Hubertus Grimm und Johannes Schlütz, die massiv steigenden Sozialausgaben kritisch. &bdquo;Wir müssen uns überlegen, wie weit der Sozialstaat das alles noch tragen kann, der alles locker-flockig bezahlt“, sagt Torke. Das drücke den Kommunen schwer auf den Schultern. Auch er sieht ein großes Problem darin, dass die große Politik die Flüchtlingsfrage nicht löse. &bdquo;Und ich muss als Bürgermeister vor Ort ausbaden, was anderswo verzapft wird.“ Er sieht – vorsichtig positiv – inzwischen etwas Bewegung in so mancher Frage. Aber: Wenn eben die große Politik nicht wirklich wach werde &bdquo;gehen wir hier unter“. Natürlich frage er sich an manchem Tag, warum er das noch mache: &bdquo;Da muss man ganz ehrlich sein. Aber diese Tage hatte ich als Bundeswehroffizier im Auslandseinsatz auch.“ Er sei aber nie so weit gewesen, den Beruf wirklich an den Nagel hängen zu wollen. Hermann Temme, Brakel Die &bdquo;Brocken hinschmeißen“ kommt auch für Brakels Bürgermeister Hermann Temme nicht infrage. Temme kritisiert, dass viele Aufgaben kommunalisiert sind, ohne sie ausreichend zu finanzieren. Als Beispiel nennt er den Anspruch auf einen Platz in der offenen Ganztagsschule. &bdquo;Sozialpolitisch sicherlich wünschenswert, macht sich in Düsseldorf und Berlin aber keiner Gedanken, wie das vor Ort umgesetzt werden kann. Zumal auch die Fachkräfte fehlen. Wer die Musik bestellt, muss sie auch bezahlen“, unterstreicht Temme. Das vermisse er sehr. Den Ärger über verfehlte Politik bekomme man vor Ort zu spüren. Seine Forderung: Eine Reform der Gemeindefinanzierung. Wirklich optimistisch ist er aber nicht – &bdquo;ich glaube nicht daran“. Die Situation und die Stimmungslage hätten sich in der jüngeren Vergangenheit deutlich verschlechtert, so seine Wahrnehmung. Lesen Sie auch: Fixkosten fressen die Erträge auf: Brakel droht die Haushaltssicherung Temme wünscht sich, dass endlich das Umlagesystem beendet wird, dass der Landschaftsverband beim Kreis und der Kreis sich bei den Kommunen das Geld für seine Arbeit holt. Dieser Teufelskreis müsse dringend durchbrochen werden. Tobias Scherf, Warburg Der Warburger Verwaltungschef kann die Kritik von Jörg Bierwirth gut nachvollziehen. Die teils ungelösten Probleme des Bundes und Landes würden sich in den Kommunen bündeln. Als Beispiel nennt Scherf die Unterbringung und Integration von Flüchtlingen. &bdquo;Wir sind nicht Verursacher der Probleme und sind dennoch ständig mit ihnen konfrontiert“, sagt Scherf, der wie sein Höxteraner Amtskollege die chronische Unterfinanzierung der Kommunen und die überbordende Demokratie anprangert. Ans Aufgeben hat er aber noch nie. &bdquo;Denn das Amt ist zwar auf der einen Seite schwer – insbesondere durch Anfeindungen von außen –, auf der anderen Seite sehe und suche ich aber immer wieder die Gestaltungsmöglichkeiten beim Entwickeln der eigenen Kommune.“ Er versuche, den Blick auf das Positive zu lenken, und freue sich über freudige Kinderaugen in Kindergärten und Schulen. Ebenso sei es schön, festzustellen, wie Dorfgemeinschaften mit Unterstützung der Stadt und durch das Ehrenamt die Gemeinschaft und das Dorfleben zum Erblühen bringen. &bdquo;Ich bringe gerne Dorf- und Stadtentwicklung voran und bin und bleibe Optimist: Am Ende setzt sich das Gute durch.“ Das hofft Scherf auch mit Blick auf die angeschlagenen Kommunen und hat auch Vorschläge, was Land und Bund jetzt dringend tun müssen. Zunächst müsse es eine Erhöhung des Verbundsatzes sowie Abschaffung des Umlagesystems des LWL zulasten der Kommunen geben. &bdquo;Ebenso ist eine restriktive Flüchtlingspolitik, verbunden mit Vereinfachungen, Asylbewerber ins Arbeitsleben zu führen und sprachlich zu fördern, um die Menschen besser integrieren zu können, sehr wichtig“, ergänzt Scherf. Es müsse einen Abbau von Vorschriften (zum Beispiel im Baubereich) geben. &bdquo;Zudem sollten mehr Entscheidungen eigenverantwortlich an die kommunale Ebene abgegeben werden.“ Nicolas Aisch, Borgentreich Auch Nicolas Aisch stimmt der Rundum-Kritik von Jörg Bierwirth &bdquo;absolut zu. Wir beschäftigen uns in großen Teilen mit Themen, die von außen an uns herangetragen werden. Einen Handlungsspielraum gibt es nahezu nicht mehr. Die finanzielle Last wird in großen Teilen von den Kommunen getragen“, so die Diagnose des Borgentreicher Verwaltungschefs. Die Situation sei schon seit längerem herausfordernd. Gerade im Bereich der Schaffung von OGS-und Kita-Plätzen oder bei der Unterbringung Geflüchteter spitze sich die Lage immer weiter zu. &bdquo;Wir sind die Verantwortlichen, die in letzter Instanz vor den Bürgerinnen und Bürgern stehen und die schlechten Nachrichten bringen.“ Allerdings – und das versieht er mit einem Ausrufezeichen – habe er noch zu keinem Zeitpunkt selbst schon darüber nachgedacht, den Job des Bürgermeisters an den Nagel zu hängen. Er gehe grundsätzlich jeden Morgen sehr gerne ins Rathaus und freue sich auf die Begegnungen, die auf ihn warten. &bdquo;Der Reiz ist sicherlich die Vielfältigkeit, die diesen Beruf ausmacht: das Bearbeiten unterschiedlichster Themen oder die Lösung der täglichen Herausforderungen. Der Kontakt und der Umgang mit Menschen ist unheimlich wertvoll.“ Und wie alle seine Amtskollegen fordert er mehr Geld von Land und Bund – wenn im Ton auch etwas zurückhaltender. &bdquo;Wir benötigen deutlich mehr monetäre Unterstützung, um die Herausforderungen adäquat meistern zu können“, sagt Nicolas Aisch. Und da ist noch etwas, was ihn stört: &bdquo;Darüber hinaus bedarf es Verlässlichkeit und Vertrauen. Diese Grundtugenden der deutschen Politik sind nicht mehr uneingeschränkt vorhanden.“

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