Junge Frau aus Höxter berichtet: "Man hätte alles mit mir machen können"

Höxter. Es ist Sommer, Corona spielt eine nur noch untergeordnete Rolle, es kann wieder gefeiert werden, auch auf Schützenfesten. So feiern, trinken und tanzen auch vier junge Frauen aus dem Stadtgebiet Höxter. Wir nennen sie Anna, Linda, Julia und Melanie. Auf zwei unterschiedlichen Festen im Stadtgebiet erleben sie Ähnliches: Plötzlich dreht sich alles, ihnen wird übel. Freunde erleben die jungen Frauen wie weggetreten, kaum ansprechbar und wenn aus ihnen doch etwas herauskommt, dann ergeben die Worte wenig Sinn. Die Frauen können sich kaum selbst bewegen, nicht einmal auf den Beinen halten, doch übergeben sich eimerweise. Anna, Linda, Julia und Melanie haben wahrscheinlich, denn belegt ist es nicht, K.O.-Tropfen verabreicht bekommen. "Ich bin überzeugt davon", sagt Melanie im Gespräch mit der "Neuen Westfälischen". Schützenfest Nummer eins Gegen 23.30 Uhr klingelt Melanies Telefon. Ihr Bruder ist dran, er ist auf einem Schützenfest und berichtet, dass es Anna und Linda, zwei Freundinnen von Melanie, nicht gut geht. Sie steigt ins Auto und fährt los, um die Frauen abzuholen. "Mein Bruder hat sie nur zufällig aufgegabelt, sie waren gerade auf dem Weg ins Gebüsch, um sich zu übergeben." Als Melanie beim Schützenfest ankommt, und ihre Freundinnen sieht - Linda kennt sie seit 30 Jahren - merkt sie sofort, dass etwas nicht stimmt. "Sie waren komplett überdreht, total drüber", schildert Melanie, "sie haben fast geschrien". Im Auto ändert sich das Verhalten der Freundinnen. "Ich will jetzt nicht sagen, dass sie aggressiv wurden, das klingt so böse, aber eine Freundin wollte unbedingt noch etwas essen und hat von der Rückbank aus am Fahrersitz gerüttelt." Dann muss Melanie anhalten. Linda muss sich übergeben. Melanie und ihr Bruder müssen sie stützen, weil Linda sich nicht selbst auf den Beinen halten kann. Eine Stunde dauert es, ehe sie weiterfahren können. Denn Melanie und ihr Bruder bekommen Linda kaum ins Auto. "Ihr ganzer Körper war wie Gummi, sie hatte keine Körperspannung mehr", berichtet Melanie. Es ist kaum mehr möglich, als sie auf die Rückbank zu legen, wo sie sich unaufhörlich weiter in einen Eimer übergibt. Lesen Sie auch: KHWE und Stadt Höxter reagieren auf K.O.-Tropfen-Vorwürfe Bei Linda daheim wird es nicht besser. "Sie lag wie tot in der Einfahrt", erinnert sich Melanie, zwischendurch kommt Linda immer wieder kurz zu sich, oder ist zumindest ansprechbar. "Sie redete aber nur Schwachsinn." Lindas Mutter ruft dann den Krankenwagen. Am Telefon, so schildert es Melanie, muss sich die besorgte Frau anhören, ihre Tochter habe nur zu viel getrunken. Es sei eben Schützenfest. "Hören Sie mal", antwortet die Mutter laut Melanies Beschreibung: "Ich kenne meine Tochter, sie ist nicht einfach betrunken." Der Rettungswagen kommt. Linda wird ins Krankenhaus gebracht, ihr wird Blut abgenommen. "Es wurde auch etwas in ihrem Blut gefunden, aber wir wissen nicht, was." Das liegt daran, dass Linda offenbar im Krankenhaus aufwacht. Sie liegt auf einem Bett, aber niemand ist da. Linda sucht ein Telefon und ruft ihren Vater an. Zweimal, denn beim ersten Telefonat versteht der Vater kein Wort. Beim zweiten Telefonat klappt die Kommunikation. Er fährt los und holt sie ab. Linda verlässt das Krankenhaus ohne einen einzigen Mitarbeiter zu sehen, mitten in der Nacht. Inzwischen hat Melanie Anna, der es nicht so schlecht geht wie Linda, nach Hause ins Bett gebracht. "Anna würgte die ganze Zeit, aber es kam gar nichts mehr aus ihr raus", beschreibt Melanie. Dafür schreit die junge Frau zwischendurch: "Hilf mir!" Schützenfest Nummer zwei Es ist Schützenfest in Melanies Dorf. Sie freut sich. Ihr Freundeskreis trifft sich bei Melanies Bruder. Dort trinkt Melanie zwei Aperol-Spritz. Gesprächsthema: "Wir haben alle noch gesagt: Passt auf eure Gläser auf." Wie es Anna und Linda kurz zuvor ergangen war, ist Melanie noch präsent. Gegen 21.30 Uhr oder 22 Uhr gehen die Freunde zusammen zum Schützenfest. Die Stimmung ist ausgelassen. "Ich habe mich total gut unterhalten", erinnert sich Melanie. Sie trinkt zwei Bier. Kurz vor Mitternacht bekommt sie Hunger, holt sich eine Pizza. "Ich hatte sie in der Hand und wollte gerade essen, da fing der ganze Platz an, sich zu bewegen. Alles hat gewackelt. Dabei war ich einen Moment vorher noch völlig klar." Ihren Begleiterinnen sagt Melanie: "Ich muss mich hinsetzen." Dabei hätte sie sich eigentlich hinlegen müssen und wollen. "Aber ich kann mich da ja nicht irgendwo hinlegen mitten auf dem Schützenplatz", sagt sie heute. Dann wird es diffus. Melanie weiß, dass ihre Freunde sich um sie kümmern. Sie erinnert sich an Schritte, die kommen und gehen, und an Stimmen. Was die sagen, weiß sie jedoch nicht mehr. Zwischendurch schläft sie immer wieder ein. "Ich war so müde." Die einzigen Bilder, an die sie sich erinnern kann, ist der Blick in den Eimer, in den sie sich immer wieder übergibt. Irgendjemand hat den aufgetrieben. "Ich hatte keine Kontrolle mehr über meinen Körper", beschreibt Melanie. "Man hätte alles mit mir machen können, ich hätte mich nicht wehren können." Ihren Begleitern ist das offenbar nicht klar. Sie erzählen Melanie später, dass Melanie immer wieder sagte, es ginge ihr gleich wieder gut und es sollten doch bitte alle weiterfeiern. Also ruft niemand den Krankenwagen. Stattdessen bringt eine Freundin sie später nach Hause ins Bett. Was Melanie erst später erfährt, ist, dass es ihrer Freundin Julia kurz vor Mitternacht auf der Toilette übel wird. "Sie ist dann raus aus dem Klo, weil sie dachte, wenn sie dort zusammenklappt, findet sie niemand", erzählt Melanie. Julia schleppt sich auf ein Stück Rasen und legt sich dorthin. Mit letzten Kräften schafft sie es, ihren Bruder anzurufen. Der kommt gemeinsam mit Julias Mann zum Schützenfest. Sie suchen und finden Julia und wählen den Notruf. Denn sie merken: Julia verhält sich komisch. Sie kommt ihnen nicht vor, als hätte sie einfach zu viel getrunken. Doch das, so schildert es Melanie, bekommen die Männer von den Rettungssanitätern zu hören. Zu viel Alkohol. Es ist eben Schützenfest. Mann und Bruder reden auf den Rettungsdienst ein, bis Julia mitgenommen und ins Krankenhaus gebracht wird. Eine Blutuntersuchung wird nicht gemacht, stattdessen soll Julias Mann seine Frau nach anderthalb Stunden mit nach Hause nehmen. "Er fragte, wie er das denn machen solle, Julia konnte nicht alleine gehen", berichtet Melanie. Daraufhin brachte ihm jemand einen Rollstuhl und der besorgte Gatte schob Julia aus dem Krankenhaus. Der nächste Morgen. Melanie wacht auf und hat "die Kopfschmerzen meines Lebens". Ihr Freund flößt ihr literweise Wasser ein. "Man hat dir irgendwas gegeben, das muss raus", sagt er ihr, erzählt Melanie. Also trinkt sie. Immer mehr Fälle werden bekannt In den darauf folgenden Tagen und Wochen erfährt Melanie von immer mehr Menschen, denen angeblich K.O.-Tropfen verabreicht wurden. Darunter auch Männern. Einige sind wohl zur Polizei gegangen. Polizeisprecher Edison Buch berichtet auf Anfrage von Fällen im niedrigen einstelligen Bereich. Melanie geht nicht zur Polizei. Ihre Freundinnen auch nicht. "An dem Abend habe ich die Verbindung nicht gezogen", sagt Melanie mit Blick auf das, was ihren Freundinnen Anna und Linda zugestoßen ist. "Und als es mir dann klar wurde, im Nachhinein, da konnte ich nicht mehr zur Polizei gehen. Ich kann nichts nachweisen, ich weiß nicht, wann es passiert ist, wer es war." Polizeisprecher Edison Buch betont im Gespräch mit der "Neuen Westfälischen" jedoch ganz klar, dass die Polizei jeden ernst nehme, der gegenüber den Beamten von einer möglichen Straftat berichtet. Im Idealfall riefen Betroffene schnellstmöglich die Polizei, aber auch im Nachhinein würden Anzeigen aufgenommen. Statt zur Polizei zu gehen denkt Melanie darüber nach, in den sozialen Medien öffentlich vor K.O.-Tropfen auf Schützenfesten zu warnen, denn sie will nicht, dass es weitere Opfer gibt. Nachdem eine Verwandte sich abfällig geäußert hatte, zweifelt sie an sich selbst. Übertreibt sie nur? Melanie hat Angst, Menschen könnten ihr vorwerfen, sie wolle nur Mitleid oder Aufmerksamkeit. "Wenn schon vertraute Personen so was denken..." Sie hadert auch, ob sie wirklich mit der "Neuen Westfälischen" sprechen sollte. Schlussendlich entscheidet sie sich dafür. Auch weil erst ein weiteres Schützenfest im Stadtgebiet gefeiert werden muss, ehe öffentlich gewarnt wird. "Nach dem zweiten, als ich betroffen war, habe ich gedacht: Jetzt müssen alle wach werden und gucken, dass sie den Typen kriegen. Warum muss es erst Vorfälle auf drei Festen geben?" Die Folgen Melanie ist keine Person, die sich verrückt macht. Zwar hat sie fieberhaft überlegt, wann ihr jemand eine Substanz ins Glas geschüttet haben könnte. Denn sie ist sicher: "Ich habe aufgepasst. Ich habe mein Getränk nirgendwo stehen lassen, ich habe es nicht einmal abgestellt." Aber sie hat an den Vorfällen nicht so hart zu knapsen wie eine ihrer Freundinnen. "Einerseits ist es ihr unglaublich peinlich, andererseits malt sie sich immer wieder aus, was hätte passieren können." Ging es darum, junge Frauen gefügig zu machen? Sollten die Opfer ausgeraubt werden? Das Perfide an der Methode K.O.-Tropfen ist aus Melanies Sicht, dass sie das Opfer in eine Situation bringen, in der sie sich zurückziehen wollen. "Niemand möchte sich mitten im Festzelt übergeben." Stattdessen suchten Opfer häufig einsamere Gefilde auf. Orte fernab vom Trubel, wo auch Hilfe ferner ist. Anna und Linda waren auf dem Weg ins Gebüsch, als Melanies Bruder glücklicherweise über sie stolperte. Melanie selbst wollte raus aus dem Partygetümmel, sich hinsetzen, besser hinlegen. Julia schleppte sich auf ein Stück Wiese. Nur weil sie mit letzter Kraft ihr Smartphone nutzte, wurde sie schnell und von den richtigen Personen gefunden. Melanie fühlt sich von den Erlebnissen auf dem Schützenfest ausgebremst. Sie ist nicht mehr unbefangen. K.O.-Tropfen waren für sie bis zum Sommer nie ein Thema. In der Großraumdisko in der Stadt - okay. Aber nicht auf dem Land, nicht im eigenen Dorf. Und jetzt? "Die Sorge ist da, dass es wieder passieren kann."

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