Für 32 Taten angeklagt: Junge Frau mit bewegter Geschichte steht vor Gericht

Höxter. Dass aus Domenika S. (Name geändert) keine normale junge Frau werden würde, war schon früh klar. Ihre Eltern flüchteten mit ihr aus dem Kosovo nach Deutschland. Doch die Familie blieb nicht zusammen. Mit sieben Jahren kam Domenika S. in ein Heim, seitdem, so haben es diverse Gutachter rekonstruiert, gab es wohl keinen Kontakt mehr zu Mutter und Vater. Von denen ist auch kaum etwas bekannt. Möglicherweise seien sie Alkoholiker gewesen, gibt der forensische Psychiater Michael Hintersdorf aus Delbrück wieder. Jetzt muss sich die junge Frau ganzen 32 Tatvorwürfen stellen, die sie seit 2021 begangen haben soll. Im Wesentlichen geht es um Diebstähle von Portemonnaies und Handys, häufig hat sich Domenika S. zunutze gemacht, dass Autos oder Wohnhäuser nicht verschlossen waren, um an Beute zu gelangen. Doch einige Male ist sie auch ausgerastet, hat andere Menschen angegriffen oder gegen Polizeibeamte ausgeteilt, die sie zu bändigen versuchten. Aber ist sie eine unverbesserliche Kriminelle oder gibt es andere Erklärungen für ihr Verhalten? Bevor es vor Gericht richtig losgehen kann, muss Richterin Nora Rüter schon unterbrechen. Denn Domenika S. kann vor lauter Schluchzen nicht sagen, wie sie heißt, oder wie alt sie ist. Sie hat den Kopf in den Armen vergraben und heult vor Gram. Buchstäblich. Erst nach einigen Minuten hat sie sich beruhigt. Michael Hintersdorf, der als Gutachter an der Verhandlung vor dem Amtsgericht Höxter teilnimmt und Aufschluss darüber geben soll, ob Domenika S. schuldfähig ist, gibt Einblick, dass sie wohl häufiger so reagiert: &bdquo;Ich habe schon einmal ein Gutachten über Frau S. geschrieben. Das war damals schon schwierig“, erklärt Hintersdorf. &bdquo;Sie war so wie heute, vielleicht noch etwas aufgeregter und wenig auskunftsbereit.“ Die &bdquo;Exploration“ habe abgebrochen werden müssen. Die Fragen der Richterin Auch bei der Gerichtsverhandlung braucht Domenika S. eine Pause. Die Richterin geht mit ihr jede einzelne Tat durch, zeigt Tatortfotos und stellt Fragen. Das ist anstrengend. Beispiel: Mitte Juli des vergangenen Jahres soll sich Domenika S. an einer Handtasche in einem Auto bedient haben. &bdquo;Das war ein weißer Skoda“, erklärt Richterin Rüter. Der habe vor der Einrichtung in Höxter gestanden, wo die Angeklagte untergebracht ist. Der Wagen sei nicht abgeschlossen gewesen und S. habe in einer Handtasche 230 Euro Bargeld gefunden und eingesteckt. 180 Euro davon soll sie umgehend in Portemonnaie, Schuhe, einen Rucksack und Modeschmuck von einem Textildiscounter umgesetzt haben. &bdquo;Der war offen“, sagt S. und meint den Skoda. Was die Angeklagte von dem Geld gekauft hat, sei konfisziert worden, erklärt die Richterin. &bdquo;Frau S., es ist üblicherweise so, dass man das nicht behalten darf.“ Die Angeklagte: &bdquo;Und wenn ich das wiederhaben will?“ Woraufhin ihr Rechtsanwalt ihr erläutert: &bdquo;Das war ja nicht in Ordnung, das war fremdes Geld.“ Die Angeklagte, erklärt Gutachter Michael Hintersdorf, zeige &bdquo;deutliche kognitive und intellektuelle Defizite“. Ihr Entwicklungsstand sei in Teilen der eines Kindes. &bdquo;Sie kann sich nicht selbst versorgen.“ Auch selbstverletztendes Verhalten sei dokumentiert. Der Psychiater diagnostiziert ein seltenes Syndrom, gewissermaßen einen &bdquo;chromosomalen Defekt“, vergleichbar mit Trisomie 21. &bdquo;Die Betroffenen kommen hirngeschädigt zur Welt.“ Domenika S. ist heute 21 Jahre alt. Zwei Drittel ihres kurzen Lebens hat sie in Einrichtungen zugebracht. Angefangen beim Kinderheim. Dort wird sie, so schildert es Hintersdorf, früh verhaltensauffällig. Sie steht auch nicht das erste Mal vor Gericht. Denn, so Hintersdorf, Domenika S. sei zwar vermindert intelligent, aber sie bekomme doch so viel mit, dass sie erkenne, dass Gleichaltrige anders lebten. &bdquo;Bedürfnisspannung“ nennt er das, übersetzt: &bdquo;Ich kriege was nicht, was alle anderen kriegen wie Geld, einen Partner, Schmuck, was auch immer.“ Deswegen werde sie kriminell. Meist Geld und Handys im Visier In den meisten Fällen stibitzt sie heimlich Geld und Handys. Doch besonders professionell geht sie dabei – trotz eines gewissen Auges für unverschlossene Türen – wohl nicht vor. Reinhard G., 83, aus Marienmünster hat im Februar mit Domenika S. Bekanntschaft gemacht. &bdquo;Sie ist von hinten ins Haus gegangen“, berichtet G. &bdquo;Ich habe ein Rascheln gehört, aber es hagelte auch. Doch später raschelte es noch mal.“ Reinhard G. sieht nach, was los ist und stößt auf Domenika S., die in einem Schrank mit sechs Schubladen wühlt. &bdquo;Ich habe gefragt: Hast du was geklaut? Sie sagte: nein. Ich habe sie dann zur Vordertür rausgelassen.“ Später entdeckt G. im Nebenraum Dinge, die nicht ihm gehören. &bdquo;Da hatte sie ihre Papiere und eine Tasche liegen gelassen – da habe ich dann die Polizei gerufen.“ Gestohlen habe sie im Haus von Reinhard G. nichts. Doch die Angeklagte kann auch anders. Margret R., die in der Einrichtung arbeitete, in der Domenika S. lebt, berichtet mit teils bebender Stimme vom Oktober 2021. &bdquo;Ich hatte Spätdienst.“ Sie will mit zwei Bewohnern einkaufen fahren. Dann sei Domenika S. aufgetaucht und habe mitkommen wollen. &bdquo;Sie wollte immer die Nummer eins sein.“ Margret R. sagt nein, Domenika S. wird wütend. &bdquo;Sie sagte, sie wolle ein Messer holen und mich umbringen.“ Danach habe sie mit einem Handy auf Margret R. eingeschlagen. Zurückblieben &bdquo;nur“ blaue Flecken und der Gedanke: &bdquo;Hätte sie ein Messer gehabt, wäre es wohl schlimmer ausgefallen.“ Die Staatsanwältin will daraufhin vom Gutachter wissen, ob Domenika S., wenn sie aufgeregt ist, noch merke, was sie in der Hand halte und womit sie zuschlage. &bdquo;Ob sie das merkt, weiß ich nicht, aber es dürfte keine Rolle für sie spielen“, antwortet der. Denn Aufregung verstärke die Symptome der 21-Jährigen noch. Wie mangelndes Urteilsvermögen oder Affektkontrolle. Bessere Medikamente? Generell, sagt Hintersdorf, halte er die Angeklagte für vermindert schuldfähig, in Erregungszuständen könne sie aber sogar komplett schuldunfähig sein. &bdquo;Richtig behandeln“ könne man Domenika S. nicht. Vielleicht verbessere sich ihr Verhalten, wenn sie in einer Einrichtung untergebracht würde, in der sie besser betreut werden könne, oder wenn sie medikamentös besser eingestellt würde. (Hintersdorf kritisiert, welche Tabletten Domenika S. derzeit erhält: &bdquo;Ich habe das Gefühl, sie hat eingenässt, das könnte ein Zeichen für Übermedikation sein.“) Aber es sei weiter zu erwarten, dass sie stehle und in &bdquo;Erregungszuständen“ &bdquo;auch mal zu haut“. Weiter geht’s am Dienstag, 27. September.

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