Suizid des Ehemanns: Wie eine Frau sich zurück ins Leben kämpft

Kreis Höxter. Ein Tag in den Sommerferien 2017: Ching Chin und die drei Töchter, damals zehn, sieben und fast knapp Jahre alt, wachen morgens auf und stellen fest, dass Papa nicht da ist. Der Dienstwagen steht vor der Tür, Laptop und Handy sind an ihrem Platz, nur von Papa fehlt jede Spur.Die Familie sucht im Haus, ruft bei der Arbeit an, erfährt von einer Mitarbeiterin, dass der Vermisste darum gebeten habe, alle für diesen Tag anstehenden Termine abzusagen. Er habe schlecht geschlafen. Doch er holt keinen Schlaf nach. Das ist der Tag, an dem sich das Leben von Ching und ihren Töchtern für immer ändern wird. "Ich hatte da schon kein gutes Gefühl", berichtet Ching, "eigentlich hatte ich sogar ein ziemlich schlechtes Gefühl". Das sich bewahrheiten wird. Es dauert nicht lange, da erreicht die Familie ein Brief. Abgesendet aus dem Vereinigten Königreich. Von ihrem Mann."Ich konnte nur die ersten zwei Zeilen lesen: Er hat Selbstmord begangen." Die Polizei informiert Scotland Yard. Ching reist selbst nach Schottland, um ihren Mann zu suchen. Es wird jedoch einen Monat dauern, ehe dessen Leiche gefunden wird. Sorge um ungewisse Zukunft Dass Papa tot ist, kann Ching den Töchtern nicht sofort sagen. "Ich wusste nicht, wie." Die drei seien absolute Papa-Kinder gewesen. Und er war ein liebevoller Vater. "Für seine Arbeit war er immer viel unterwegs, er hat viele Dienstreisen gemacht, aber wenn seine Töchter sich wünschten, dass er mit ihnen spielt, dann war er sofort da."Als die Mädchen erfahren, dass Papa nie wieder kommen wird, sind sie aufgeregt. Besonders die Jüngste. "Papa hat gelogen, Papa hat gelogen". Sie ist zornig. Papa hatte ihr versprochen, bei ihrer Einschulung nach den Ferien dabei zu sein. "Er hat gelogen." Chings Gefühle haben tausend Namen. Da ist Schmerz, tiefer Schmerz, weil ihr Mann fort ist. Doch sie sorgt sich auch. Bisher war sie Vollzeit-Mama. Sie weiß nicht, wie viel Geld ihr Mann der Familie hinterlassen hat. Wird sie mit den Kindern in Deutschland bleiben können? Oder muss sie zu ihrer Familie nach Hongkong? Außerdem fühlt sie sich schuldig.Hätte sie wissen oder wenigstens ahnen können, was er vorhatte? Hätte sie es verhindern können? Und sie ist wütend. "Du bist jetzt da oben glücklich, aber ich bin hier mit all den Problemen", sagt sie. Und manchmal ist auch einfach "alles grau".Stark für ihre KinderAber eine allumfassene Verzweiflung, Depression, das erlaubt sie sich nicht. "Meine Kinder haben ihren Papa verloren, sie durften nicht auch noch ihre Mama verlieren." Sie sagt sich, wenn sie den Mut hätte, ebenfalls zu sterben, dann hätte sie auch den Mut zu leben. Es muss weitergehen. Es müssen Entscheidungen getroffen werden.Aus dem Haus muss die Familie raus. Zwar hat der Mann vor seinem Tod Sorge getragen, dass sie finanziell versorgt sind. Doch Ching wird wieder anfangen zu arbeiten, das Haus aber ist groß, der Garten ist groß. Zu groß für eine berufstätige alleinerziehende Mutter. Und: "Alles dort erinnerte mich permanent an ihn." 90 Prozent der Habseligkeiten ihres Mannes spendet sie an den Lions Club. Dort war er Mitglied und sie weiß, dass er es so gewollt hätte. "Passt schon, Ching", hätte er gesagt, "Ich habe es genau im Ohr, wie er das sagt. Passt schon, Ching." Leben mit dem VerlustMit der Zeit wird es leichter für Mutter und Töchter. Der siedendheiße Schmerz flaut etwas ab. An besonderen Tagen, Geburtstagen, Weihnachten, in den Ferien kommt er pochend zurück. Die Familie hat es aber geschafft, sich meistens glücklich an Papa zu erinnern. "Wir sprechen über ihn, darüber was er gesagt und getan hat." Und dann ist Papa bei ihnen. Sie können lachen und sich freuen, als hätte Papa dieses oder jenes erst gerade gesagt und nicht bereits vor Jahren."Ich bin grundsätzlich ein positiver Mensch", sagt Ching, "ich schaue lieber nach vorn als zurück". Außerdem habe sie unglaublich viel Unterstützung von Freunden und Familie erhalten. Ein solches Glück in einer solchen Situation hätten nicht viele. Das wird ihr bald umso bewusster. Eine Tochter nimmt an einem Programm für Kinder, die Eltern verloren haben, teil. Dort trifft Ching eine andere Mutter, die ihren Mann ebenfalls durch Suizid verloren hat. Und sie trifft immer mehr Menschen, die dieses Schicksal teilen. "Da dachte ich, warum helfen wir uns nicht gegenseitig, warum sitzen wir alle alleine mit unserem Schmerz zuhause?" Sie gründet eine Selbsthilfegruppe.Die Betroffenen besser verstehenEinen geliebten Menschen durch Suizid zu verlieren, ist etwas anderes, als wenn dieser an einer Krankheit oder durch einen Unfall stirbt. "Bevor mein Mann sich das Leben nahm, hätte ich mich sicher bis zu einem gewissen Grad in Betroffene hineinversetzen können", sagt Ching. Aber wirklich verstehen? Kaum möglich. Lasten doch Trauer, Schuldgefühle, Zweifel oder auch Wut auf den Angehörigen. "Wer einen Menschen auf diese Art verliert, muss einen Grund finden, ohne ihn weiterzuleben. Ich lebe nun ohne ihn. Punkt. Neues Kapitel. Ich muss mein Leben leben und ich will es glücklich leben." Wie schnell das geht, sei unterschiedlich. "Für den einen ist ein Jahr eine lange Zeit, für den anderen nicht."Im März wird Ching den Job wechseln. Sie ist ganz aufgeregt. Und voller Vorfreude.Anm. d. Red.Generell berichten wir nicht über Selbsttötungen, es sei denn, es gibt besondere Gründe für eine erhöhte Aufmerksamkeit. Sollten Sie sich von besonderen Lebensumständen betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte die kostenlose Telefonseelsorge unter Tel. (08 00) 1 11 01 11.

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