Beverungen/Höxter

Brückensturz in Höxter: Wie Sandras Mutter mit dem Tod ihrer Tochter umgeht

Nach der Aktenzeichen-XY-Sendung hat sie nur einen Wunsch

An der Friedhofsbrücke: Hier hat Malgorzata Gallinger eine kleine Gedenkstätte liebevoll hergerichtet. Mehrmals in der Woche ist sie hier und fühlt sich dann ihrer Tochter ganz nah. | © Mathias Brüggemann

Mathias Brüggemann
20.06.2019 | 20.06.2019, 22:51

Beverungen-Wehrden/Höxter. Ihre Jacke hängt noch an der Garderobe im Flur ihres Elternhauses in Wehrden. Darunter stehen Schuhe von ihr. So als wäre sie nur kurz mal weg. Doch Sandra Gallinger kommt nicht wieder. Am 15. Juni 2013 stürzte die 17-Jährige nachts von der Höxteraner Friedhofsbrücke auf die Bundesstraße 64. Einen Tag später starb sie im Krankenhaus an den Folgen ihrer schweren Verletzungen.

Jetzt sorgt der Tod der jungen Wehrdenerin erneut für Aufsehen. Die ZDF-Sendung „Aktenzeichen XY ungelöst" griff den Fall auf, drehte einen Filmbeitrag über die mysteriösen Geschehnisse in jener Nacht in Höxter und bat die Zuschauer um Mithilfe. Denn inzwischen geht die Polizei nicht mehr von einem Unglücksfall, sondern von einem Verbrechen aus.

Aktenzeichen XY ungelöst: Der Leiter der Mordkommission, Markus Mertens, mit ZDF-Moderator Rudi Cerne (r.) im Gespräch. - © ZDF
Aktenzeichen XY ungelöst: Der Leiter der Mordkommission, Markus Mertens, mit ZDF-Moderator Rudi Cerne (r.) im Gespräch. | © ZDF

Für Sandras Familie, die sich am 5. Juni am Bildschirm den Film über das schreckliche Geschehen ansah, waren das noch einmal sehr schmerzhafte Augenblicke. „Es kam alles noch einmal hoch. Es war, als ob es gestern passiert wäre", beschreibt Malgorzata Gallinger, was in ihr vorging, als sie im Fernsehen die von Schauspielern nachgestellten Szenen über die letzten Stunden im Leben ihrer Tochter sah. Sie hofft nun, dass unter den 17 eingegangenen Zuschauer-Anrufen der entscheidende Hinweis dabei ist, der zur Ergreifung des Täters führt. „Ich habe Sandra am Grab geschworen, dass ich nicht eher Ruhe geben werde, bis der Täter gefunden ist und zur Rechenschaft gezogen wird."

Am Abend des 15. Juni 2013 warteten Sandras Eltern auf ihre Tochter. Sie lebte inzwischen in einer Wohngemeinschaft in Höxter, wollte das Wochenende aber bei ihrer Familie in Wehrden verbringen. „Es wurde immer später. Doch Sandra kam nicht", erinnert sich Malgorzata Gallinger. Um 21.30 Uhr klingelte es an der Tür. Zwei Polizeibeamte überbrachten der Familie die schreckliche Nachricht. Mehr als 18 Stunden nach dem Brückensturz. So lange hatte es gedauert, bis die Polizei die Schwerverletzte identifiziert hatte. Sandra hatte keine Papiere bei sich.

"Ich konnte nur hilflos zusehen, wie mein Kind stirbt"

Sie habe geschrien, als die Polizisten erzählt hatten, was passiert sei: „Nein. Nicht meine Sandra. Das muss eine Verwechslung sein." Sofort machte sie sich mit ihrem Mann und ihrem Sohn auf den Weg in die Göttinger Universitätsklinik. „Ich habe die ganze Nacht an ihrem Bett gesessen. Aber ich konnte nur hilflos zusehen, wie mein Kind stirbt." Am nächsten Tag um 12.31 Uhr hörte Sandras Herz auf zu schlagen. Am Hochzeitstag ihrer Eltern.

Die Polizei ging damals noch von einem Unfall aus. Auch ein Suizid wurde nicht ausgeschlossen. Auf einer Party war Sandra mit ihrem Freund in Streit geraten. Als er die Party wütend verließ, lief sie ihm hinterher und versuchte vergeblich, ihn zu beruhigen. Am Kreisverkehr an der Petri-Apotheke trennten sie sich. Sandra lief allein weiter in Richtung Friedhof. Fest steht, dass sich die 17-Jährige später noch mit einem Freund aus einer früheren Beziehung auf der Friedhofsbrücke getroffen hat – ob geplant oder zufällig, ist unklar. Auch wie das Treffen genau ablief, liegt für die Polizei im Dunkeln. Um 2.16 Uhr wurde Sandra mit schwersten Verletzungen von einem Autofahrer auf der B 64 unter der Bücke gefunden.

»Sie hatte ihre Geburtstagsfeier schon geplant«

Für Malgorzata Gallinger stand schon damals außer Frage, dass jemand Sandra die Brücke hinuntergestoßen hat. Einen Unfall hält sie für ausgeschlossen. „Sandra war klein. Wie sollte sie über die hohe Brüstung stürzen?" Auch ein Suizid sei völlig abwegig. „Sandra war ein fröhliches und lustiges Mädchen, sehr kontaktfreudig. Sie hatte viele Freunde, war sehr beliebt. Im Hotel Stadt Höxter absolvierte sie gerade ein Praktikum. Schon nach zwei Wochen wurde ihr dort ein Ausbildungsplatz zugesagt. Am 1. August sollte sie ihre Ausbildung zur Hotelfachfrau antreten. Im November wäre sie 18 geworden. Sie hatte ihre Geburtstagsfeier schon bis ins Detail geplant."

„Von Sandra bleiben mir nur noch der Friedhof, die Brücke, die Erinnerungen und die Bilder", erzählt ihre Mutter. In jedem Zimmer ihres Hauses hängen oder stehen Bilder des Mädchens. Umgeben von Blumen und brennenden Kerzen. „Sogar im Keller", sagt sie. In Sandras Zimmer mit den pink- und lilafarbenen Wänden hat Malgorzata Gallinger nichts verändert. Sandra ist im ganzen Haus präsent. „Es vergeht nicht ein Tag, an dem ich nicht an Sandra denke. Oft spreche ich mit ihr. Aber ich bekomme keine Antworten."

Die gläubige Katholikin ist davon überzeugt, ihre Tochter einmal wiederzusehen. „Aber da muss ich warten bis ich sterbe. Mir fehlt sie aber jetzt."

"Wir vermissen Dich"

Regelmäßig, zwei bis dreimal in der Woche, fährt die gebürtige Polin nach Höxter zur Friedhofsbrücke. Dort hat sie eine kleine Gedenkstätte mit Blumen und Kerzen errichtet, die sie liebevoll pflegt. An einem Holzkreuz hängt ein Foto von Sandra. „Warum Du? Wir vermissen Dich", ist darauf zu lesen. Die Brücke sei ihr wichtig. Da sei sie ihrer Tochter ganz nahe und halte oft Zwiesprache mit ihr, erzählt sie, während sie frische Blumen niederlegt. „Hallo Sandra. Da bin ich wieder", sagt sie und streicht auf dem Foto zärtlich über die Wange ihrer Tochter.

Mehrfach sei die Gedenkstätte geschändet worden. In der Silvesternacht 2013/14 habe jemand einen Busch umgesägt und das Strauchwerk auf die Stelle gelegt. Malgorzata Gallinger vermutet, dass dies der Mörder war.

„Wie kann ein Mensch nur mit einer solchen Schuld leben?

„Der Täter hat Sandras Leben zerstört. Er hat unser Leben zerstört. Und er lebt unbehelligt unter uns", stellt Malgorzata Gallinger bitter fest. „Wie kann ein Mensch nur mit einer solchen Schuld leben?", frage sie sich immer wieder. Sie habe nur einen Wunsch: „Dass der Fall aufgeklärt wird – und wir endlich Klarheit haben."