Mehr als Kultur: „Freilichtbühnen sind auch sozial total wichtig“

Brakel-Bökendorf. Die Hamburger Regisseurin Melanie Herzig (44, Der Kleine Horrorladen, Freilichtbühne Bökendorf) spricht im Interview über die Herausforderungen der Corona-Zeit und ihrem ersten Engagement bei einer Freilichtbühne. Wie sehen Proben in der Corona-Zeit aus? Melanie Herzig: Zunächst mussten wir uns erst mal fragen, was in der Corona-Zeit möglich ist. Nichts zu machen, war keine Option. Es gab dann Überlegungen, fünf Songs aus dem Kleinen Horrorladen mit je zwei Darstellern zu zeigen. Später haben wir beschlossen, das Stück einzukürzen. Wir haben das Ensemble von etwa 60 Darstellern auf zwölf reduziert, unter anderem die Darsteller aus Risikogruppen rausgenommen und spielen jetzt mit sehr jungen Leuten. Das ist eine Ausnahme, hoffe ich, denn die Freilichtbühne in Bökendorf ist ja eine Mehrgenerationen-Bühne. Außerdem lebt eine so große Bühne von Massenszenen, von Finalszenen mit 40 Menschen – jetzt sind es sechs. Als das klar war, haben wir mit Online-Proben begonnen. Mit Leseproben, aber auch die Choreographien wurden zuerst online geprobt mit sehr viel Eigenleistung der Darsteller. Ab Mai durften wir im Freien und mit Abstand zu proben. Und wenn es nicht möglich war, ausreichend Abstand zu halten, trugen die Darsteller Masken. Dann durften wir auch die Masken absetzen. Jetzt sind wir alle entweder seit mindestens 14 Tagen vollständig geimpft oder negativ getestet. Nach anderthalb Jahren ohne Freilichtbühne ist die Freude auf die Premiere des Kleinen Horrorladens am Samstag doch bestimmt groß. Herzig: Die Freude und die Motivation ist wahnsinnig groß. Allerdings ist sie fast noch größer vor der Generalprobe am Freitag. Da schaut dann der ganze Verein zu, also die vielen Kollegen, die am Anfang Teil der Show waren und es coronabedingt nicht mehr sind. Zwölf Leute repräsentieren den ganzen Verein, der sicher mit einem lachenden und einem weinenden Auge zusieht. Was sind die Herausforderungen bei einer Inszenierung auf einer Freilichtbühne? Herzig: Die sind vor allem technischer Natur. Für mich war das auch eine ganz neue Erfahrung. Zum Beispiel die Lichtverhältnisse. Im Theater kann ich es abdunkeln, ich kann etwas anleuchten, etwas wegleuchten. Zwar leuchten wir auf der Freilichtbühne Bökendorf auch, aber wenn wir abends um 20 Uhr beginnen, ist es taghell. Einen Darsteller, der die Bühne verlässt, kann ich dann nicht wegleuchten. Mit Licht kann man außerdem sehr viel Atmosphäre schaffen. Dem Kleinen Horrorladen zum Beispiel kann man etwas Mystisches verleihen. Und dann ist da der Mehrgenerationen-Gedanke der Freilichtbühne. Natürlich ist da einer fitter als der andere. Unsere älteren Darsteller tanzen andere Choreographien als 20-Jährige. Und dabei gilt es dann, die Bedürfnisse aller Darsteller zu berücksichtigen. Welche Funktion haben Freilichtbühnen Ihrer Meinung nach? Sind sie die Theater des ländlichen Raums? Herzig: Ja und nein. Freilichtbühnen sind kulturell, ja, aber auch sozial total wichtig. Vielleicht eine Art Alternative zu Fußball- oder Sportvereinen. Sie sind Gemeinschaftspunkte, wo sich die Menschen engagieren können. Und man muss ja auch nicht auf der Bühne stehen. Man kann auch Kostüme, Technik oder Maske machen. Erfährt die Kultur jetzt, da sie wieder stattfinden darf, eine neue, eine andere Wertschätzung? Herzig: Ich hoffe es, aber ich bin auch etwas desillusioniert. Man hat ja gesehen, wie die Kultur in der Krise behandelt wurde. Menschen haben sich beschwert, dass ihnen im Homeoffice der Stuhl nicht bezahlt wurde, während viele Künstler Hartz IV beantragen mussten, weil sie nicht auftreten konnten. Vor der Pandemie hat sich auch niemand die Frage gestellt, wo die Netflix-Serien herkommen. Denn es war ja immer alles da. Jetzt stellt man fest, dass es manches nur in Englisch gibt oder etwas gar nicht erst produziert werden konnte. Vielleicht bewirkt das etwas. Ich könnte mir schon vorstellen, dass zum Beispiel das Theater wieder mehr geschätzt wird. Weil es dort nicht nur um das Stück geht, sondern auch um das Davor, das Danach und darum, ins Gespräch zu kommen.

Meistgelesen