Steigende Zahl der Fälle: Löhner Jugendhilfe ist am Limit

Löhne. Um ein in Obhut genommenes Kind unterzubringen, fahren die Mitarbeitenden beim Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) schon mal 200 Kilometer. Sie telefonieren bei einem normalen Fall 30 bis 40 Einrichtungen ab, bei schwierigen Fällen teilweise mehr als 100, bevor ein Platz gefunden ist. &bdquo;Wenn jemand kurzfristig untergebracht werden muss, lassen alle Mitarbeiter den Stift fallen und nehmen den Telefonhörer in die Hand“, berichtet Viola Vogel, Fachbereichsleiterin der sozialen Dienste. Denn: Die Plätze sind rar und gleichzeitig nimmt die Zahl der Meldungen zu - in besorgniserregendem Maße, wie Vogel und Nicole Schörder, Leiterin des Amts für Kinder, Jugend und Familie der Stadt Löhne, im Gespräch mit der NW berichten. Allein in diesem Jahr zählt das Jugendamt Löhne schon 18 Meldungen zur Kindeswohlgefährdung und neun Inobhutnahmen. 209 laufende Fälle werden gerade bearbeitet. &bdquo;Von 2022 auf 2023 ist die Anzahl der Meldungen von Kindeswohlgefährdungen in Löhne um 26 Prozent gestiegen“, sagt Schröder. Diesen starke Aufwärtstrend gebe es seit einigen Jahren - zählte das Amt 2020 noch 98 Meldungen, waren es 2022 schon 131. Ein bundesweites Problem Mit diesen Zahlen steht Löhne nicht alleine da. Es ist ein Anstieg, der bundesweit zu beobachten ist. &bdquo;In den Ballungsräumen ist der Anstieg noch höher“, betont Schröder. Dass mehr potenzielle Kindeswohlgefährdungen gemeldet werden, habe unterschiedliche Ursachen. &bdquo;Das Thema ist mehr in den Fokus gerückt“, sagt Viola Vogel. Vorfälle wie der Missbrauchsfall in Lügde hätten die Öffentlichkeit dafür sensibilisiert. Außerdem habe sich auch die Gesetzeslage verändert, erklärt Schröder. &bdquo;NRW hat das stärkste Kinderschutzgesetz in Deutschland.“ Beides zusammen führt zu einer höheren Frequenz. &bdquo;Eine Meldung heißt natürlich nicht, dass daraus ein Fall wird“, sagt die Amtsleiterin. Falsche Denunziationen, zum Beispiel aufgrund von Nachbarschaftsstreitigkeiten, seien jedoch seltener geworden. &bdquo;Das kriegt man aber auch schnell raus“, erklärt Vogel. Jeder Meldung werde nachgegangen. Meist sei aber schon etwas dahinter. Denn, das erklären die beiden deutlich, hinter den steigenden Zahlen stecken nicht zuletzt echte Probleme in den Familien. Immer mehr Inobhutnahmen &bdquo;Die Familien sind stärker unter Druck“, sagt Nicole Schröder. Und Viola Vogel spricht von einer grundsätzlichen Überforderung. Familiäre Netzwerke würden immer häufiger fehlen. &bdquo;Die Eltern sind immer öfter auf sich gestellt, wenn überhaupt noch als Paar“, sagt Vogel. Und in zugewanderten Familien führten kulturelle Unterschiede, die die Kinder in der Schule kennenlernen, durchaus mal zu Spannungen. &bdquo;Darum ist es ja so wichtig, dass wir eine gute Integrationsarbeit leisten.“ Nicht nur mehr mögliche Fälle werden gemeldet, auch die Anzahl der Inobhutnahmen steigen an. &bdquo;Das passiert ganz oft im Kontext der Rufbereitschaft“, erklärt Viola Vogel. Wenn zum Beispiel die Polizei wegen Streitigkeiten zuhause oder häuslicher Gewalt gerufen wurde und ein Kind kurzfristig aus der Situation geholt werden muss. &bdquo;Es sind aber auch viele Selbstmelder dabei.“ Also Kinder oder Jugendliche, die sich über die Schulsozialarbeit oder auch direkt ans Jugendamt wenden, weil sie zuhause nicht mehr bleiben wollen. Und zu den Inobhutnahmen zählen auch die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge, die in Löhne aufgenommen wurden. &bdquo;Und wenn sich keine Anschlussplätze finden, bleiben die länger dort.“ Plätze bleiben Mangelware Gleichzeitig gibt es längst nicht so viele Plätze wie notwendig. Das liege vor allem am Fachkräftemangel. &bdquo;Die Träger geben teilweise die Auskunft: Wir haben zwar Räume, aber kein Personal“, erklärt Nicole Schröder. Obwohl es also immer mehr Bedarf gibt, schrumpft die Anzahl der Plätze auf diese Weise sogar. Das Resultat: Eine bundesweite Konkurrenz der Jugendämter um die Unterbringung. Darum hat das Löhner Amt für Kinder, Jugend und Familie vor kurzem selbst Abhilfe geschaffen. &bdquo;Wir haben einen kleinen Träger hier, der exklusiv für uns arbeitet. Und für die UMAs, die unbegleiteten minderjährigen Ausländer, gibt es jetzt eine Brückenlösung“, berichtet Schröder. Für sie sind Wohngruppen in städtischen Wohnungen geschaffen worden. Danach habe sich die Stadt Löhne aktiv mehr UMAs zuweisen lassen, 27 insgesamt, und damit die Quote übererfüllt. Dadurch würden jetzt erst einmal keine mehr zugewiesen. &bdquo;Wir hoffen, dass das für Entspannung sorgt.“ Die &bdquo;Königsdisziplin der Sozialarbeit“ Auch in Sachen Fachkräftemangel habe das Löhner Jugendamt bisher noch nicht den Druck, den andere spüren. Gerade im ASD sei es allgemein schwierig, Mitarbeitende zu finden. &bdquo;Wir haben ein gut gemischtes Team mit erfahrenen und neuen Kollegen. Und wir haben auch einen ganz guten Ruf“, sagt Viola Vogel. Dennoch sei die Situation alles andere als rosig. &bdquo;Der ASD gilt als die Königsdisziplin der Sozialarbeit“, betont Vogel. &bdquo;Aber das Gehalt entspricht dem einfach nicht“, bemängelt Nicole Schröder. Wer etwa als Betreuer einer Wohngruppe genauso viel bekommen kann, der nehme eher nicht die Stelle beim ASD mit einer so hohen Verantwortung. &bdquo;Dazu kommt auch ein Generationenwechsel“, sagt die Amtsleiterin. Die Berufsanfänger würden immer jünger und ständen nach Abi und Bachelor mit 21 Jahren Lebensalter vor einer Situation, in der sie zum Beispiel über eine Inobhutnahme entscheiden müssen. &bdquo;Bei uns macht das keiner alleine. Es sind immer erfahrene Kollegen dabei. Aber es gibt auch Jugendämter, in denen es diese erfahrenen Kollegen nicht mehr gibt.“ &bdquo;Es wird langsam brenzlig“ Um den Job wieder attraktiver zu machen, sei die Gehaltsstruktur aber nur der Anfang. &bdquo;Wir brauchen ganz viel Geld für die Infrastruktur, wir müssen mehr Personal ausbilden“, sagt Schröder. Und vor allen Dingen müssten die Prioritäten klar gesetzt werden. &bdquo;Wir sagen ja immer, Kinder sind unsere Zukunft. Aber es fehlt ein Bewusstsein dafür.“ Auf Bundes- und Landesebene müsste die Jugendhilfe einen höheren Stellenwert bekommen. Kreative Lösungen auf kommunaler Ebene seien immer nur ein Tropfen auf den heißen Stein, die Mittel begrenzt. Und an allen Ecken und Enden fehlen Kapazitäten - von Pflegeeltern über Heimplätze bis hin zur Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dabei sei nicht davon auszugehen, dass die Fälle abnehmen. &bdquo;Es wird langsam brenzlich“, sagt Schröder.

Meistgelesen