Nach tödlichem Motorradunfall: „Ich bin das meinem Vater schuldig“

Kreis Herford. Es ist ein Dienstagabend im März des letzten Jahres. Einmal mehr wird an der Oberen Talstraße in Hiddenhausen gerast. Anwohner beklagen zu diesem Zeitpunkt schon lange, dass die Straße, an der sie wohnen, zu einer regelrechten Rennstrecke für laute und schnelle Motorräder geworden ist. Zwei junge Motorradfahrer, zur Tatzeit 18 und 22 Jahre alt, sind an diesem Tag mit ihren Maschinen unterwegs. Allgemeine Verkehrsregeln und Vorschriften interessieren sie offenbar nicht, denn die Maschinen sind weder angemeldet noch versichert, Alkohol ist auch im Spiel. Für die Anwohner sind die beiden Raser schon von Weitem zu hören. Heinz-Dieter Ostermöller ist einer von ihnen. Der 58-jährige Familienvater hat einen großen Freundes- und Bekanntenkreis und wird von seinem Umfeld als &bdquo;Pfundskerl“ bezeichnet. Jemand, mit dem man gerne seine Zeit verbringt, mit dem man gemeinsam lachen und auch gute Gespräche führen kann. Für den Zusammenhalt und Familie wichtig sind. Einer, der das Reisen liebt, der Spaß an der Gartenarbeit hat und an Musik alles von David Bowie und Nick Cave hört. Freunde sagen, dass sie viel von ihrem Vater hat Aus einer Kurve kommend überholt der 22-jährige Raser seinen Kumpel. Unklar ist, warum Heinz-Dieter Ostermöller zu diesem Zeitpunkt auf die Straße getreten ist. Fakt ist: Er wird von dem Motorrad mit über 70 Stundenkilometern frontal erfasst und zu Boden geschleudert, verstirbt noch am Unfallort. Deborah Ostermöller ahnt von dem schrecklichen Ereignis vor ihrem Elternhaus in Hiddenhausen zu diesem Zeitpunkt nichts. Die Erzieherin in einer Kindertagesstätte lebt in Bielefeld, am nächsten Tag wird sie 38 Jahre alt. Zu ihrem Vater hat sie ein besonders inniges Verhältnis, er hat sie alleine großgezogen. Freunde sagen, dass sie viel von ihrem Vater mitbekommen hat: das sonnige Gemüt, die Hilfsbereitschaft anderen gegenüber und eine innere Stärke, die sie für viele zu einer Art Fels in der Brandung werden lässt. Als Nebenklägerin Blickkontakt gesucht Als das Telefon klingelt und ihr die Todesnachricht überbracht wird, lässt sie sich zusammen mit ihrem Mann von einer Freundin der Familie sofort zur Oberen Talstraße fahren. Als sie eintrifft, erscheint das, was sie dort sieht, zunächst irreal. &bdquo;Wie in einem Film.“ Zuckendes Blaulicht, die Unfallstelle hell ausgeleuchtet, Anwohner liegen sich weinend in den Armen, während Polizei und Rettungsdienstkräfte umhereilen und ihre Arbeit machen. Zeitsprung. Mai 2023, Schwurgericht Bielefeld. Die beiden Motorradraser sitzen auf der Anklagebank. Das mediale Interesse ist groß, Fernsehteams sind vor Ort, die Zuschauerbänke im Gerichtssaal bis auf den letzten Platz gefüllt. Direkt den Angeklagten gegenüber sitzt Deborah Ostermöller neben ihrem Anwalt. Sie ist Nebenklägerin in dem Prozess und wird an jedem der 16 Verhandlungstage dabei sein. Mit ihren Augen fixiert sie die beiden Angeklagten, doch zu einem direkten Blickkontakt kommt es nicht. Die beiden Männer weichen ihren Blicken aus. Für Emotionen ist im Gerichtssaal kein Platz &bdquo;Ich muss einfach dabei sein“, sagt die Frau, für die der Verlust des Vaters auch zu gesundheitlichen Problemen geführt hat. Aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung und dem Schock ist sie seither arbeitsunfähig, befindet sich in Psychotherapie. &bdquo;Ich bin das meinem Vater schuldig“, so Ostermöller weiter. Sie möchte physisch von den Angeklagten wahrgenommen werden, sie sollen sehen, dass hier die Hinterbliebene sitzt. In Schwarz gekleidet, trauernd und dennoch stark genug, um sich die Details aus den Gutachten anzuhören, die Bilder anzuschauen, den Bericht der Gerichtsmedizin zu ertragen. Der Prozess verläuft technisch, kühl, faktenbasiert. Für Emotionen sind in einem Gerichtssaal einfach kein Platz. Dass die beiden Motorradraser schuldig sind, steht schnell fest, doch welche Strafe ist tat- und schuldangemessen? Das Gericht kommt zu der Feststellung, dass es sich um &bdquo;rücksichtslose Raserei“ gehandelt habe – ein Rennen im juristischen Sinn sei aber nicht nachzuweisen. Und so fällt das Urteil in den Augen vieler äußerst milde aus: Der zunächst unfallflüchtige jüngere Motorradraser erhält eine Geldstrafe von 3.600 Euro, eine Führerscheinsperre für zwei Jahre, und er muss einen Verkehrserziehungskurs absolvieren. &bdquo;Hinter jedem Einzelschicksal stecken 100 Betroffene“ Der damals 22-Jährige, der Heinz-Dieter Ostermöller erfasste, tötete und seit dem Unfall querschnittsgelähmt ist, wird wegen fahrlässiger Tötung zu einer zweijährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. &bdquo;Wir als Hinterbliebene haben lebenslänglich bekommen“, sagt Deborah Ostermöller. &bdquo;Es wird vergessen, dass hinter jedem Einzelschicksal 100 Betroffene stecken“, führt sie weiter aus. Am Schlimmsten empfindet die Hinterbliebene die Ohnmacht, dass man von jetzt auf gleich in eine solche Situation kommen kann, ohne irgendwelchen Einfluss zu haben. Im Internet stößt sie auf eine Petition von Julian Herwig. Seine Tochter Louisa wurde im Alter von elf Jahren von einem Autofahrer, dessen Ampel seit über 20 Sekunden Rot zeigte, erfasst und getötet. Der Fahrer wird zu einer dreijährigen Bewährungsstrafe verurteilt und erhält 24 Monate Fahrverbot. Herwig startete die Petition, in der er eine Strafverschärfung für Tötungsdelikte im Straßenverkehr fordert und hat bereits mehr als 13.000 Unterschriften gesammelt. Bewusstsein schaffen und aufrütteln Deborah Ostermöller und Julian Herwig tauschen sich aus, entdecken Parallelen in beiden tragischen Fällen – und möchten aufklären. Ostermöller hier vor Ort, Herwig in Berlin. In Herford nimmt sie, zunächst als Besucherin, an der Veranstaltung Crashkurs NRW teil, 600 Schülerinnen und Schüler sind ebenfalls dabei. Es ist ein Verkehrsunfall-Präventionsprogramm der Polizei NRW in Zusammenarbeit mit Schulen. Es richtet sich speziell an Schülerinnen und Schüler ab den 10. und 11. Klassen in weiterführenden Schulen sowie Berufskollegs. Ziel ist es, die Zahl von Verkehrsunfällen – vor allem solcher mit Beteiligung von jungen Erwachsenen – nachhaltig zu senken. Gezeigt wurde ein Film, in dem es um Trunkenheit am Steuer geht und vier Jugendliche nach einer Feier tödlich verunglückten. &bdquo;Die Schüler waren zum Teil sehr betroffen, einige verließen während der Veranstaltung weinend die Turnhalle. Während der ganzen Veranstaltung war es sehr leise. Man konnte die Betroffenheit der Schüler spüren“, fasst Deborah Ostermöller die Empfindungen während der Veranstaltung zusammen. Nach deren Ende konnten die Schüler den Protagonisten noch persönlich Fragen stellen und auch Lehrer waren weiterhin als Ansprechpartner für die Schüler da. &bdquo;08.03.2022 - Unvergessen - Rasen tötet“ &bdquo;Für mich wäre die Veranstaltung noch runder gewesen, wenn tatsächlich Angehörige zu Wort gekommen wären“, so Ostermöller, die zukünftig für Veranstaltungen wie diese zur Verfügung stände. Bewirkt hat sie schon heute etwas: Der geplante Umbau, um die illegale Rennstrecke in Hiddenhausen zu entschärfen, ist das Ergebnis von Gesprächen, die Deborah Ostermöller mit Verantwortlichen geführt hat. An der Oberen Talstraße hat sie mittlerweile ein schwarzes Kreuz aufgestellt. &bdquo;08.03.2022 – Unvergessen – Rasen tötet“ steht darauf.

Meistgelesen