Überraschend lebendig: Warum jeder Herforder einmal den Erika-Friedhof besuchen sollte

Herford. &bdquo;Wer das Herz einer Stadt erfassen will, muss den Puls fühlen, der sie mit Leben füllt.“ Mit diesen Worten hatte ich Sie, liebe Leserinnen und Leser, gebeten, mir Herford zu zeigen. Wieso aber hat dieser Aufruf eine Leserin dazu animiert, mich ausgerechnet auf einen Friedhof einzuladen? Ist der lebendige &bdquo;Puls der Stadt“ nicht eigentlich an anderen Orten zu finden? Marita Kamp jedenfalls drückt fest meine Hand, als wir uns begegnen und lächelt. &bdquo;Schön, dass ich Sie davon überzeugen konnte, mit mir auf den Friedhof zu gehen. Es lohnt sich“, verspricht sie. Schon in ihrer E-Mail schreibt sie von einem &bdquo;Kleinod“ an der Vlothoer Straße und weckt große Erwartungen. Der Friedhof der Mariengemeinde Stiftberg erstreckt sich über rund 70.000 Quadratmeter und ist einer der ältesten der Stadt. Er wurde 1914 gegründet und seither dreimal erweitert. Die letzte Umgestaltung im vorderen Bereich öffnet ihn freundlich zu Parkplatz und Straße. Das vor vier Jahren eröffnete Blumengeschäft &bdquo;Marienblüte“ mit angrenzendem Café direkt neben dem Friedhof lädt zum Verweilen ein. Nach Auflösung des Grabes bleiben die Grabmale Unsere Schritte führen uns vom Parkplatz aus über eine Allee auf ein bunt blühendes Denkmal zu, bevor sich der Friedhof in seiner Größe für den Blick des Besuchers öffnet. Bienen summen leise, Vögel zwitschern, ein Eichhörnchen läuft vorbei: idyllisch. &bdquo;Die Friedhofsgärtner pflegen den Friedhof toll. Und sie achten auf eine naturnahe Gestaltung“, sagt Kamp. Kies knirscht unter unseren Füßen, als wir auf einen geschwungenen Weg durch ein Gemeinschaftsgrab wechseln. Die Grabsteine sind als Bücher gestaltet. Am Rand steht ein steinernes Regal. &bdquo;Wenn das Grab aufgelöst wird, werden die Bücher in das Regal gestellt“, erklärt sie. So bleiben die Toten auch nach 30 Jahren noch lebendig. Mir gefällt die Idee. &bdquo;Dann werden sie auch das Grab mit den Ringen mögen“, sagt Kamp. Das Konzept ist ähnlich: Eine steinerne Stele in der Mitte übernimmt den Part des Regals. Sie trägt Metallringe, in diesem Gemeinschaftsgrab dienen sie als Grabmale. Zwei sind an der Stele in der Mitte angebracht und warten noch darauf, ein leeres Urnengrab zu einem persönlichen Trauerort zu machen. Auf den Ringen sind die Namen eingraviert, die Mitte ist individuell bepflanzt. &bdquo;Bilder erzählen aus ihrem Leben“, sagt die 68-Jährige und zeigt auf das Piktogramm einer Familie. Die Ringe auf den Gräbern werden nach 30 Jahren zu denen an der Stele wechseln. Friedhöfe waren fester Bestandteil im (Kinder-)Leben Der alte Friedhof verbindet kunstvoll Altes und Neues: Verwitterte Grabsteine zieren moderne Gemeinschaftsgräber. &bdquo;Ich mag die Sprüche darauf. Sie bringen einen zum Nachdenken.“ Damals wie heute: &bdquo;Wanderer, der du an meinem Grabe weilst, wundere dich nicht über mein Los! Es war die Zeit, wo ich war wie du. Es kommt die Zeit, wo du bist wie ich.“ Ein Wechselspiel zwischen Diesseits und Jenseits, wie es an diesem Ort an so vielen Stellen zu finden ist. Einige Steine und Skulpturen begleiten die 68-Jährige schon über Jahrzehnte. &bdquo;Dieses Grab kenne ich schon mein ganzes Leben“, sagt sie und zeigt auf eine steinerne Frau, die ihren Kopf trauernd an einen Grabstein lehnt. Eine Spinne hat ihr Netz wie einen Schleier über das Gesicht gewebt. Als Kind dienten Kamp viele der alten Steine als Versteck. &bdquo;Der Umgang mit dem Tod war damals noch anders.“ Damals waren Friedhöfe noch fester Bestandteil im Leben vieler Familien – auch im Leben der Kinder. &bdquo;Mein Opa hat uns im Bollerwagen zum Friedhof gezogen“, erinnert sie sich. Er pflegte das Familiengrab, &bdquo;wir haben auf dem Friedhof Verstecken gespielt.“ Viele der Ecken von damals haben sich kaum verändert. &bdquo;Wenn er fertig war, setzte er sich auf eine Bank am Grab und rauchte Pfeife.“ Heute kümmert sich Marita Kamp um die Familiengräber – und verweilt wie ihr Großvater dort. Ein Luftballon mit &bdquo;Happy Birthday“ weht im Wind Bänke finden sich noch immer viele. Im Sommer spenden Jahrzehnte alte Bäume Schatten. &bdquo;Man kommt ungezwungen ins Gespräch“, weiß die Rentnerin. An diesem Wochentag plauschen die Friedhofsbesucher auf den Wegen, nur wenige Bänke sind besetzt. Unsere Schritte führen uns vorbei an Rhododendren und Azaleen, deren Blüten zwar schon verwelkt, aber in ihrer Pracht noch zu erahnen sind. Wir halten am Grab von Erika Goldlücke. &bdquo;Der Friedhof soll nach ihr benannt sein“, sagt Kamp. Das Mädchen starb mit gerade einmal zwölf Jahren im Jahr 1914. Ihr Grab war damals das erste auf dem Friedhof, der heute 4.000 Grabstätten mit 15.000 Gräbern umfasst. Auch Urnengräber und Baumbestattungen sind möglich. Sternenkinder haben unter den alten Bäumen ihre letzte Ruhestätte gefunden. Die alten Äste spannen ein schützendes Dach über die Kleinsten. Einige Kinder starben, noch bevor sie auf die Welt kamen, andere dabei oder kurz danach. An einem ihrer Gräber bewegt sich ein bunter Ballon mit &bdquo;Happy-Birthday-Schriftzug“ sanft im Wind. Das Kind war erst vor etwas mehr als einem Jahr gestorben, zwei Tage alt. Friedhöfe für die Lebenden Die Spaziergänge haben für Kamp &bdquo;etwas Meditatives“. Der Friedhof war für sie auch Ruhepol, als sie noch gearbeitet hat: &bdquo;38 Jahre in der JVA als Sozialarbeiterin.“ Bis heute kommt sie regelmäßig her, allein oder mit ihrem Partner. Auf Friedhöfen finden zwar Tote ihre letzte Ruhestätte, angelegt sind sie aber für die Lebenden. Sie verändern sich nicht nur mit der Gesellschaft, sondern auch mit den Menschen, die die Gräber pflegen. Große Familiengräber werden weniger, Urnengräber mehr. &bdquo;Es gibt immer wieder Neues zu entdecken“, bestätigt Marita Kamp und zeigt am Ende des Rundgangs auf ein Grab, auf dem ich zunächst nichts Besonderes erkenne. Ich trete näher heran: Die weißen Steine als Einfassung der einzelnen Bereiche sind gar keine Steine – sondern Golfbälle. &bdquo;Habe ich auch erst nach einiger Zeit bemerkt.“ Wir kehren nach unserem Spaziergang in die &bdquo;Marienblüte“ ein, in der sich Kamp auch regelmäßig mit der Gruppe &bdquo;Klönen und Werkeln“ trifft. Am ersten Donnerstag im Monat treffen sich die Frauen, um passend zur Jahreszeit zu basteln. &bdquo;Wir sind eine herzliche Gemeinschaft“, sagt Kamp. Auch für Kinder gibt es dort regelmäßig Angebote. Der Treffpunkt soll den Friedhof beleben, sagt Kamp. Und das ist auch gelungen, findet sie. Es ist eben auch hier der &bdquo;Puls der Stadt“, wenn auch der Ruhepuls.

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