Nach Polizeischüssen und Demo in Herford: "Transparente Aufklärung für alle Seiten immens wichtig"

Herford. Mehr als 30 Schüsse sollen es gewesen sein, die sechs Polizisten in der Nacht zum 3. Juni auf einen 19-jährigen Herforder abgegeben haben. Dieser ist schwer verletzt worden und wird dem Vernehmen nach querschnittgelähmt bleiben. Am vergangenen Samstag gab es nun eine Demonstration gegen die Polizei in Herford, Tenor: "Die Polizei lügt". Aufgrund von Ausschreitungen konnte dieser Protestzug allerdings nicht so stattfinden, wie die Veranstalter es vorgesehen hatten. Doch was machen diese ganzen Vorkommnisse mit der Stadt und ihren Bürgerinnen und Bürgern? Und was machen der Vorfall und die Anfeindungen mit der Polizei, vor allem auch mit den sechs jungen Beamten, die geschossen haben? Jonas Grutzpalk ist Soziologe und Politikwissenschaftler und lehrt als Professor an der Hochschule für Polizei und öffentliche Verwaltung Nordrhein-Westfalen, Standort Bielefeld. Aus wissenschaftlicher Sicht schätzt er den Vorfall sowie die Folgen im Interview ein. Herr Grutzpalk, welche Gedanken haben Sie als Soziologe, wenn Sie den bisher bekannt gewordenen Verlauf des Vorfalls in der Nacht zum 3. Juni geschildert bekommen - also 19-Jähriger flieht im Auto vor der Polizei, die Verfolgungsjagd endet in einer Sackgasse in Bad Salzuflen, es werden offenbar 34 Schüsse auf den 19-Jährigen abgegeben. Was genau passierte, ist natürlich noch Gegenstand von Ermittlungen. Aber was könnte passiert sein? Also, zunächst einmal: Ich war nicht dabei, und ich kann auch nicht im Einzelnen sagen, was dort passiert ist. Was ich allerdings sagen kann ist, dass der Verlauf dort extrem ungewöhnlich ist. Ich weiß, dass insgesamt bei der Polizei ein enormer Respekt vor dem Schusswaffeneinsatz generell herrscht. Und im Besonderen natürlich vor dem Einsatz gegen Menschen. Dazu ein paar Zahlen: Im Jahr 2021 wurden in ganz Deutschland 0,8 Prozent der Schüsse aus Dienstwaffen im Zusammenhang mit Personen abgegeben - 139 insgesamt. Dass Polizeibeamte die Waffe direkt gegen Menschen richten, ist also auch statistisch gesehen sehr selten. Und nun waren es in einer einzigen Situation über 30 Schüsse. Noch einmal: Ich war nicht dabei. Aber es gibt in der bekannten Gemengelage, die am Einsatzort geherrscht hat, verschiedene Möglichkeiten, verschiedene Gedanken, Emotionen, die eine Rolle gespielt haben könnten. Die erste Sache ist sicherlich die Eigensicherung, die Möglichkeit, dass sich die Beamten bedroht gefühlt haben könnten durch das Fahrzeug des später Verletzten. Dann gab es sicher auch die Frage nach dem Ermessen - also die Frage, ob es angemessen ist, in der Situation die Dienstwaffe zu zücken oder ob es andere Mittel gibt. Auch der Gedanke "Darf ich das jetzt oder wird das hinterher gegen mich ausgelegt?" könnte schon in der Situation eine Rolle gespielt haben. In den allermeisten sozialen Kontexten gibt es aber noch eine denkbare Möglichkeit: Wenn wir uns vorstellen, dass dort alle Beteiligten unter Anspannung standen, sich gegenseitig beobachtet haben, dann spielen auch gegenseitige Erwartungen eine Rolle. Auch die Beamten haben sich sicher gegenseitig beobachtet. Man spricht in diesem Zusammenhang von Konfrontationsanspannung. Und die kann sich - aus soziologischer Sicht - in einer Art gruppendynamischem Effekt lösen, nach Randall Collins ist das die Bocksprung-Gewalt. Da reicht es dann, wenn einer anfängt. So viel zu den beteiligten Polizeibeamten. Aber nach dem Vorfall wurde in der gesamten Stadt - auch als Hinweis auf die Demonstration, die für den 15. Juli angemeldet war - plakatiert mit "Die Polizei lügt" oder "Nehmt den Cops die Knarren ab". Auch Hetze im Netz gab es. Das hat doch sicher Auswirkungen auf die gesamte Polizei in Herford, oder? Hier sind drei Effekte denkbar. Der erste ist sicher eine Art Ingroup-Outgroup-Effekt, dass man sich als Polizei also stark abgrenzt zum Außen. Aus soziologischer Sicht wird durch den Vorwurf "Die Polizei lügt" sicher ein kurzfristiger Zusammenhalt innerhalb der Polizei mobilisiert - nach dem Motto: Die verstehen uns da draußen nicht, die wissen gar nicht, wie hart unser Alltag ist. Der zweite Effekt ist aber dann die Legitimationsfrage, also die Frage, ob der Einsatz der Dienstwaffen wirklich angemessen war. Und drittens spielt hier die sogenannte Cop-Culture eine Rolle. In der Hochschule, wo wir die Beamten ausbilden, stelle ich gerne Fragen wie "Würden Sie jede Straftat verfolgen?" Die Antwort lautet fast immer einhellig "Ja". Als nächstes frage ich: "Würden Sie Ihre Kollegen immer schützen?" - Auch hier antworten fast alle mit "Ja". Dann kommt der Nachsatz "Würden Sie sie auch schützen, wenn sie eine Straftat begehen?" - Hier wird es dann schwierig. Aber diese Fragestellungen sind alle Teil des polizeilichen Lebens. Die Demonstration in Herford war ja - wie erwartet - mit Ausschreitungen verbunden und wurde vorzeitig von den Veranstaltern aufgelöst. Ja, das ist grundsätzlich schade. Denn neben der Eigensicherung ist es natürlich auch Aufgabe der Polizei, die Grundrechte der Versammlungsfreiheit und der freien Meinungsäußerung durchzusetzen. Das ist hier für die Demonstrierenden, die friedlich unterwegs waren, offenbar nicht in Gänze gelungen. Wie wichtig ist in diesem Fall nun die transparente Aufklärung? Auf einer Skala von eins bis hundert? - Ganz klar hundert. Das gilt im Übrigen für alle Fälle, in denen es um Fragen der legitimen Machtausübung geht. In der Biologie haben die führenden Alphatiere über Kraft und Stärke den ersten Zugriff auf Dinge wie Nahrung oder Fortpflanzung. Bei den Menschen müssen die Führungspersonen im Sinne der Allgemeinheit begründen, warum sie führen. Macht und Führung gehen immer einher mit Legitimation. Und gerade wenn es um auffälliges Verhalten geht - wie hier die außergewöhnliche Situation, dass mehr als 30 Schüsse gefallen sind - muss ermittelt werden. Und das transparent - auch für die Öffentlichkeit. Alle Artikel zum Thema finden Sie hier.

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