3,34 Minuten pro Patient: Kinderarztpraxen in Herford an der Belastungsgrenze

Herford. Das Telefon ist an den meisten Praxistagen abgestellt. "Wir können es seit Wochen nicht mehr bedienen", sagen die Kinderärzte Jens Holtmann und Christian Dietrich. Zu groß ist der Andrang der Eltern mit ihren kranken Kindern. Infektionskrankheiten aller Art grassieren und so bilden sich Tag für Tag Wartetrauben vor den Herforder Kinderarztpraxen. An besonders extremen Tagen sehen die Ärzte ihre Patienten im Drei-Minuten-Takt. "Wir erleben aktuell zweifellos die schwerste und belastendste Phase seit unserer Praxisgründung vor fast 20 Jahren", sagt Holtmann. Auch in der Praxis von Christof Klinkert sieht es derzeit nicht anders aus. "Es ist für uns alle eine große Herausforderung und eine Belastung für das ganze Team." Mehr als 200 Kinder versorgen er und Ärztin Maria Liapi derzeit durchschnittlich pro Tag. Überstunden sind längst Standard - in allen Praxen. "Wir schieben 60-Stunden-Wochen", sagt Kollege Holtmann dazu und erinnert sich noch gut an zwei besonders heftige Tage zurück. "Bei fünf Minuten pro Patient hätten wir 17 Stunden gearbeitet" Am Montag, 28. November, hat das Praxisteam mit drei Ärzten an der Mindener Straße 363 Patienten versorgt. "Unser Höchststand. Für Einzelpraxen ist es noch extremer." Zwei Tage zuvor hatte die Praxis Notdienst, 215 Jungen und Mädchen galt es zu behandeln. Ähnliches berichtet Klinkert vom Notdienst: "Das ist alleine nicht mehr zu schaffen." Holtmann hat anhand dieser Patientenzahl die durchschnittliche Behandlungszeit pro krankem Kind ausgerechnet. Der Notdienst geht von 8 bis 20 Uhr. In den 720 Minuten bleiben 3,34 Minuten pro Patient. "Bei fünf Minuten pro Patient hätten wir 17 Stunden gearbeitet - ohne eine Sekunde Pause", bringt es Holtmann auf den Punkt. Und auch Kollege Helmut Pabel von der Bismarckstraße sagt: "Es ist heftig gerade. Wir arbeiten im Akkord." Infektionswelle, die Kindergärten werden immer vorsichtiger, unsinnige Scheine für Schule und Kita, Verunsicherung bei Eltern: Viele Faktoren kommen derzeit zusammen und sorgen so für die immense Überbelastung in den Praxen. "Es ist deutlich extremer als sonst im Winter", sagt Klinkert. Das habe auch mit der strengen Isolation und der Maskenpflicht aufgrund der Corona-Pandemie zu tun. Kinder hatten in den vergangenen fast drei Jahren kaum Berührungspunkte mit Viren. Die Infekte, die für den Aufbau eines stabilen Abwehrsystems wichtig sind, holen sie jetzt gebündelt nach. "Das ist Teil des biologischen Lebens." "Unsere Mitarbeiterinnen leisten Unmenschliches, doch darüber redet keiner" Einige Eltern von Dreijährigen gehen mit der Situation unangemessen hilflos um. "Die Schwelle zum Arzt zu gehen, ist weit abgesunken", berichtet Holtmann. Das würde auch mit der veränderten Familiensituation zusammenliegen. Dass mehrere Generationen eng zusammenleben, ist nicht mehr häufig gegeben. Erfahrungen fehlen. Zudem leiden Eltern häufig an der sozialen Struktur, sagt Klinkert. Ist das Kind krank, benötigen Eltern für den Arbeitgeber eine Bescheinigung oder müssen die Betreuung und die Pflege anderweitig organisieren. Ein zusätzlicher Kraftakt. Und auch der Personalmangel spielt eine große Rolle. "Unsere Mitarbeiterinnen leisten Unmenschliches, doch darüber redet keiner", empört sich Dietrich. Der Beruf müsse wieder attraktiver gemacht werden. Nicht nur mehr Gehalt, auch Wertschätzung sei wichtig. Das vermissen die Mediziner und medizinischen Fachangestellten für ihren Berufsstand. Ändere sich hier nicht schnell etwas, sieht Dietrich schwarz für die Zukunft. In Herford seien drei Kinderärzte über 60 Jahre alt und es fehle an Nachwuchs. "Wenn das so weiter geht, haben wir in fünf Jahren das gleiche Problem wie bei den Hausärzten. "Wir fühlen uns allein gelassen", sagt der Kinderarzt und spricht den Corona-Bonus an, den die Pflegekräfte im Krankenhaus bekommen haben, aber keine Mitarbeiterin in den Praxen. Fair sei das nicht. Betten in Kinderklinik voll belegt Betroffen macht den Kinderarzt Pabel eine Situation von vergangenen Freitag. Einem Kind sei es so schlecht gegangen, dass er es in die Kinderklinik des Klinikums einliefern lassen wollte. Doch dort sei kein Platz frei gewesen. "Wir haben es medizinisch dann selbst in den Griff bekommen." Sonst hätten die Eltern eine weiter entfernte Klinik ansteuern müssen. Wer innerhalb der Stadtgrenze seinen Kinderarzt wechseln möchte, hat eigentlich keine Chancen. "Wir nehmen auch keine Patienten mehr aus Bielefeld an", berichten zwei der drei Praxen. Obwohl es Eltern aus den Grenzorten immer wieder versuchen würden, da die Lage in der Nachbarstadt noch dramatischer zu sein scheint. "Die Menschen sind verzweifelt", sagen Holtmann und Dietrich. Klinkert kann neu hinzugezogene Herforder aus Köln, Stuttgart oder Münster aber beruhigen: "Die werden hier weiter versorgt und Neugeborene natürlich auch." Trotz der enormen Überlastung brennen die Kollegen für ihren Beruf. Klinkert: "Unsere Patienten liegen uns am Herzen, wir wollen, dass sie gut versorgt sind und geben deswegen alles."

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