Lesung im Stadttheater: Edgar Selge träumt von seiner Heimatstadt

Herford. "Ich wusste gar nicht, dass Herford einen Weinberg hat", sagt Edgar Selge, als ihm Andreas Kornacki zum Ende einer erheiternden wie bewegenden Autorenlesung im Stadttheater ein Präsentpaket überreicht. Darin sind eine Flasche Herforder Wein und zwei Herford-Weingläser verpackt.Der Tag hat noch mehr Überraschungen für den gebürtigen Herforder bereit gehalten. Er schreibt kurz vor der ausverkauften Lesung am Donnerstagabend ins Goldene Buch der Stadt: "Seit 50 Jahren streife ich immer wieder in meinen Träumen durch Herford. Heute, am 17. März 22, befand ich mich zum 1. Mal seit meiner Kindheit und Jugend wieder auf meinem Lieblings-Weg: auf den Wällen! Meine Füße kannten die Richtung besser als meine Erinnerung. Und was meine Augen sahen, war schöner, als sie es je gesehen hatten." Selge hat die Sätze nach einem Gang über einst vertraute Wege auf einem Zettel vorformuliert und achtet sorgsam darauf, dass die Tinte nicht verwischt. Das derzeit wohl bekannteste Kind der Stadt misst der Eintragung Bedeutung bei.Deutscher Hörbuch-Preis für Edgar Selge Sein Roman "Hast du uns endlich gefunden" schildert seine schwierige Kindheit und Jugend als Sohn des Herforder Gefängnisdirektors in der Nachkriegszeit. Es wurde auf Anhieb zum Bestseller und von der Kritik einhellig gerühmt. Selge hat für die Hörbuch-Einlesung am Mittwoch den Deutschen Hörbuch-Preis gewonnen. Seine Verkörperung des früheren Staatsratsvorsitzenden im aktuellen Fernsehfilm "Erich Honecker und der Pastor" wird allenthalben als Glanzleistung hervorgehoben. Bürgermeister Tim Kähler hatte das Goldene Buch im Rucksack und radelnd aus dem Rathaus mitgebracht. Selge berichtet in einer kleinen Plauderei vor der Lesung, dass er die heutige Leiterin seines alten Friedrichs-Gymnasiums beim Rundgang getroffen hat und dass er ganz angetan war von der Umgestaltung der Werre und des Walls am Wilhelmsplatz. Auch das Wittekindsdenkmal hat er wiedergesehen und verrät, dass er in München in der Nähe der Bandelstraße lebt.Ernst Bandel aber war nicht Schöpfer des Wittekindsdenkmals, sondern des Herrmannsdenkmals in Detmold, wo Selge das Abitur abgelegt hat. Kleine Fehler waren ihm auch im Buch unterlaufen, räumt Selge gerne ein. So liegt der Garten der Stiftung Brand nicht am Ufer der Bowerre, sondern der Aa. Ein alter Mit-Friederizianer habe ihn auch auf Fehler wie Pappeln an der Mindener Straße hingewiesen, die es dort nie gegeben habe. Er habe Herford aus dem Gedächtnis beschrieben und nicht noch einmal recherchiert. "Im Großen und Ganzen kann man Herford aber wiedererkennen", meint der Autor später unter Applaus."Herford ist schöner als Bielefeld" Irgendwie kommt man auch auf die alte Konkurrenz zur großen Nachbarstadt zu sprechen. "Herford ist schöner als Bielefeld", sagt Selge - ganz Lokalpatriot. Tim Kähler berichtet von den Plänen, das Theater zu Gunsten eines Neubaus abzureißen. Er bestätigt, dass es Poggenpohl noch gibt, nennt aber die wirtschaftliche Stärke Herfords den Maschinenbau. Selge verrät dem SPD-Bürgermeister, dass die SPD auch immer seine Partei gewesen sei. Im Erzählton eines 12-jährigen Jungen Die Moderation der Lesung im Sinne einer Talkshow hat Herfords scheidender Kultur-Chef Andreas Kornacki übernommen. Beide verbindet "eine lange Geschichte" über den "Faust" im Hamburger Schauspielhaus. "Die Lesung ist auch für Edgar Selge etwas ganz besonderes", sagt Kornacki. "Ja, gespenstisch", sagt der. Vor fünf Jahren habe er begonnen, an dem Buch zu arbeiten und zweieinhalb Jahre gebraucht, den richtigen Ton zu finden.Es ist der Erzählton eines zwölfjährigen Jungen geworden: "Es war mir wichtig, die Geschichte nicht als Erwachsener, sondern wie ein Kind sie erlebt hat, zu erzählen. Wir vergessen als Erwachsene aber schnell, wie wir als Kind empfunden haben. Ich habe schon früher in Interviews viel von der Strafanstalt erzählt, aber die Erinnerungen verblassen und ich musste sie wiederfinden."Der Vater war ambitionierter Klavierspieler und lud ausgewählte Gefangene des Jugendgefängnisses als Publikum, das nicht davonlaufen konnte, ein. Er sei auf seine Weise fortschrittlich gewesen im Versuch, durch Kultur und Moral zur Resozialisierung beizutragen, meint Selge. Er liest das erste Kapitel seines Buches, in dem es genau um diese Situation geht. Das Publikum amüsiert sich noch zurückhaltend kichernd. Lautes Lachen wird es später in der Lesung geben, als Selge die tragikomische Situation schildert, wie seine Mutter am Nikolaustag nach über 250 Fahrstunden bei einer Fahrprüfung ausgerechnet in das Schaufenster ihres Lieblingsgeschäftes, ein Handarbeitsladen in der Elisabethstraße, fährt und die geliebten Krippenfiguren in den Auslagen zerstört. An diesem Beispiel erklärt Selge auch, wo im Buch Fiktion und Wirklichkeit zusammentreffen. Den Unfall hat es gegeben, die darauf folgende Szene im Laden hat Selge ausgeschmückt - er war ja nicht dabei gewesen. Selge verrät den Herfordern auch, was das Buch offen lässt: Die Mutter besteht am Ende die Führerscheinprüfung und wird viel besser und sicherer Auto fahren, als der dominante, in Selges Erziehung auch brutale Vater, bei dem es für die Beifahrer "immer lebensgefährlich" gewesen sei. "Jetzt ist Schluss mit den 68ern, und die Generation Praktikum übernimmt" Wäre das Buch ohne Corona entstanden, fragt Kornacki. Ja, sagt Selge, aber es habe ihn eine Situation geprägt, als der Sohn sich angesteckt hatte und sie als pflegende Eltern in Quarantäne bleiben mussten: "Das war ein Einschnitt wie nie zuvor. Die leeren Straßen. Es hat mich geängstigt. Ich dachte, ich komme nie wieder heraus und jetzt ist Schluss mit den 68ern, und die Generation Praktikum übernimmt." Er habe erkannt, dass er das Schreiben nicht weiter herauszögern könne: "Wenn ich es jetzt nicht mache, dann nie. Schauspielerei ist wie Höchstleistungssport rund um die Uhr und ich merke die Spuren des eigenen Alterns."Die Partnerin des Sohnes ist Ukrainerin "Für meine Generation war Krieg in Europa nicht mehr vorstellbar", sagt Kornacki. "Ich fürchte, ich bin ganz genauso", sagt Selge. "Die Ereignisse haben mich vom Sockel geholt und das geht vielen so. Mein Sohn lebt mit einer Ukrainerin zusammen und in unserer Berliner Wohnung leben jetzt Flüchtlinge." - "Es ist ein Putin-Krieg", sagt er unter Applaus. "Gorbatschow aber verdanken wir es, dass die beiden Deutschland wieder zusammen kommen konnten. Oft wird über den Holocaust der Vernichtungskrieg vergessen, der Millionen Russen das Leben gekostet hat." Allein in Leningrad seien durch die Belagerung 1,2 Millionen Menschen verhungert. "Die Menschen haben in ihrer Not Tagebuch geschrieben. Mein nächstes Buch wird sich mit diesen Tagebüchern beschäftigen", verrät Selge.Schwer zu ertragendes Sterben des jüngeren BrudersSelge fragt das Publikum, ob er noch den Epilog des Buches lesen soll: "Das dauert eine halbe Stunde. Ich habe ihn noch nie gelesen." Natürlich will man es hören. Im Epilog geht es um eine etwas spätere Phase im Leben Selges, als ein Bruder in noch jungen Jahren stirbt. Es ist mucksmäuschenstill im Theatersaal, als Selge mit schwer zu ertragender Offenheit schildert, wie er dem nierenkranken, sterbenden Bruder gemäß ärztlicher Anweisung das Getränk verweigert und selbst noch heute darunter leidet. Am Ende steht noch einmal tosender Applaus. Der Tisch im Foyer, an dem Selge Bücher signiert, ist dicht umlagert, der ein oder andere spricht ihn auf alte Herforder Tage an. Am Ende wird er mit einigen alten Freunden wie dem Lippinghauser Christian Meinhold und Leuten aus der Kultur noch auf ein Bier ins "Föge" gehen. Vielleicht hat er dort auch erfahren, warum Herford Riesling-Weinstöcke in Leutesdorf am Rhein besitzt.

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