Nach Corona: Kinder und Jugendliche brauchen wieder Lebendigkeit und Nähe

Herford. Kinder und Jugendliche sind von Natur aus meist nicht leise. Und sie brauchen Nähe – nicht nur von den Eltern. Nicht zuletzt deshalb sind und waren diese Gruppen durch die Corona-Einschränkungen, die fast alles verbieten, was zur Entwicklung von Kindern und Jugendlichen beiträgt, so extrem betroffen. Die Folgen können gravierend sein. Warum häufig gerade Kinder und Jugendliche aus prekären Familienverhältnissen betroffen sind und warum gerade jetzt – bei niedrigen Inzidenzwerten – Toleranz gefragt ist, das erklären Heike Wiechers, pädagogische Geschäftsführerin des Sozialdienstes katholischer Frauen in Herford, und Michael Lindemann vom Diakonischen Werk, Fachbereich Jugendmigrationsdienst. Beide sind auch Vorsitzende der AG §78, ein Zusammenschluss aller öffentlichen und freien Trägern der Jugendhilfe in Herford (siehe Info-Box). Was sind die Folgen der Corona-Pandemie und der damit verbundenen Schutzmaßnahmen für Kinder und Jugendliche? Wie äußern sich die genau? Heike Wiechers: Das ist – vor allem abhängig vom Alter und der jeweiligen Phase – unterschiedlich. Bei ganz kleinen Kindern kann das zum Beispiel heißen, dass sie bisher keine oder kaum Chancen hatten, Sozialkompetenz zu lernen. Ich hatte kürzlich mit einer Familie zu tun, deren Kind im Februar 2020 geboren wurde – also mitten in den Lockdown hinein. Wir waren zusammen auf dem Spielplatz, und das Kind hatte regelrecht Angst vor anderen Kindern und generell vor fremden Menschen. Die Interaktion kannte es eben bislang nur mit den Eltern. Michael Lindemann: Bei Schulanfängern, die ihr erstes Schuljahr im Lockdown erlebt haben, sind die besonderen Rahmenbedingungen auch ganz prägend. Sie haben nicht die Sicherheit gehabt, dass ihre Schule geöffnet ist, dass sie Tag für Tag hingehen und ihre Mitschüler kennenlernen können. Das erste Schuljahr, das eigentlich davon geprägt sein sollte, aus einer Klasse ein Sozialgefüge zu machen, das dann auch ein positives Lernumfeld darstellt, sah ganz anders aus. Auch das so wichtige Vertrauen zu Bezugspersonen außerhalb der eigenen Familie – wie Lehrern – konnte aufgrund des Abstandes und des oft nur digitalen Kontaktes nicht in dem Maße aufgebaut werden, wie es sonst der Fall ist. Genau das ist aber so wichtig, um zu wachsen, um die eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Und wie sieht es bei den Älteren aus? Wiechers: Da ist wohl die Pubertät ganz entscheidend. In dieser Phase ist es elementar wichtig, sich mit Gleichaltrigen auszutauschen, sich abzugrenzen zu den Eltern. Das war im Lockdown nur schwer möglich. Bei Mädchen zum Beispiel, wo der Körper beginnt, sich zu verändern – da ist es wichtig, sich vor dem Sport- oder Schwimmunterricht in der Umkleidekabine mal auszutauschen und zu kichern. Aber können die jungen Menschen das alles nicht nachholen? Wiechers: Nein. Wann soll ich bitteschön meine Pubertät nachholen? Wenn zum Beispiel körperliche Veränderungen da sind, sind sie da. Die warten ja nicht, bis der Lockdown vorbei ist. Lindemann: Das mit dem Nachholen ist wirklich schwierig, denn das sind einfach prägende Jahre und wir reden mittlerweile über einen Zeitraum von annähernd 1,5 Jahren. In der Pubertät, wo eigentlich Themen wie der erste Kuss oder Liebe und Nähe allgemein dran sind, muss Abstand gehalten werden, sind Treffen nicht oder nur sehr eingeschränkt möglich. Erster Kuss mit Maske? – Das ist eben ausgeschlossen. Und die Erfahrung einfach zu verschieben auf nach dem Lockdown auch. Welche Kinder und Jugendlichen sind von den Corona-Folgen am meisten betroffen? Lindemann: Eigentlich die, die sich in irgendeiner Weise in Übergängen befinden: Start im Kindergarten, Wechsel von der Kita in die Grundschule, der Schritt auf die weiterführende Schule oder auch der Wechsel von der Schule in die Ausbildung oder ins Studium – hier konnten sich die Menschen, ganz egal welchen Alters, nicht richtig einfinden, nicht ankommen in den neuen Lebensumständen. Das verunsichert und wertvolle Erfahrungen, die zu diesen Übergängen gehören, konnten nicht gesammelt werden. Wiechers: Und es sind eben die Kinder und Jugendlichen besonders betroffen, die aus so genannten prekären Familienverhältnissen kommen. Am Anfang sind die vielleicht gar nicht so aufgefallen, weil die Umstände, zum Beispiel, dass das Kind nicht jeden Morgen pünktlich in der Schule sein musste, den Familien entgegen gekommen sind. Da ist es eben plötzlich nicht schlimm, wenn das Kind um 10 Uhr noch im Schlafanzug vor dem Fernseher sitzt und ein Nutellabrot isst. Das erste Jahr der Pandemie haben sich diese Familien sozusagen in ihre Blase zurückgezogen. Erst jetzt, wo es wieder Öffnungen gibt, wird bemerkt, dass ein Kind im digitalen Unterricht gar nicht mitgekommen ist oder einfach nicht wieder in die Kita kommt. Es wird oft davon gesprochen, dass Corona als Brennglas wirkt, also die Dinge, die auch zuvor schon problematisch waren, noch deutlicher hervortreten lässt. In diesem Zusammenhang wirkt die Pandemie wie ein Brennglas auf Sozialfälle. Was ist zu tun, um die Folgen von Corona abzumildern? Wiechers: Grundsätzlich hilft alles, was menschelt. Alles, was dem Leisesein, dem Abstand und dem erzwungenen Rückzug etwas entgegensetzt. Lebendigkeit und Nähe sind angesagt und wir als Träger der Jugendhilfe müssen uns die Frage stellen, wie wir wieder an die Kinder und Jugendlichen herankommen, sie raus locken, in Bewegung bringen. Lindemann: Und Toleranz ist wichtig. Insgesamt waren Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in der Zeit der Corona-Auflagen sehr diszipliniert. Wenn Gruppen aufgefallen sind, waren es Einzelfälle. Wenn es die Rahmenbedingungen zulassen, sollten die anderen Gruppen in der Gesellschaft gestatten, dass Jugendliche wieder feiern dürfen, wieder zusammenkommen und das tun, was sie so dringend für ihre Entwicklung brauchen.

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