Frau strandet spät abends in Herford und erlebt modernes Weihnachtsmärchen

Herford. 200 Kilometer entfernt von ihrem Zuhause im Kreis Göttingen steht Cynthia Maletzki am Gleis vier. Wartet und wartet. Nichts passiert, nur die Temperaturen sinken. Sie kommt aus Hengelo am Herforder Bahnhof an und kann ihre Reise nicht fortsetzen. Der Anschluss nach Braunschweig gegen 22 Uhr fährt nicht ein. Eine Durchsage erreicht sie nicht und auch das Reisezentrum der Bahn hat längst an diesem Mittwochabend Feierabend. Hinzu kommt, dass das Handy die Verbindung zum Internet verweigert. Maletzki strandet in Herford und erlebt eine Pechsträhne, die dann mit einem glücklichen Zufall endet und für ein bleibendes Erlebnis sorgt. Davon will sie erzählen. Alles komplett ausgebucht Von einem Taxifahrer erfährt die 41-Jährige, in welchen Hotels sie unterkommen kann. Sie versucht ihr Glück am Münchner Hof. Mit sehnsüchtiger Vorfreude auf eine heiße Dusche klingelt sie. "Leider komplett ausgebucht", teilt ihr eine Frau mit. Sie läuft zum Hotel Hansa und erhält eine weitere Absage. Eine Messe sei in der Stadt und deswegen wären alle Betten belegt. Im Anschluss geht sie zum Hotel zur Fürstabtei, wo ihr niemand aufmacht. "Danach wird mir der Ernst der Lage bewusst", erinnert sie sich. Sie steht auf dem leeren Marktplatz. Alleine. In einer Stadt, die sie überhaupt nicht kennt. Nach einem Restaurant oder anderem Anlaufpunkt Ausschau haltend stolpert sie unkoordiniert weiter, bis sie plötzlich zwei arabisch aussehende, junge Männer neben sich bemerkt. Sie unterhalten sich, beachten sie gar nicht, erst als Maletzki sie anspricht und fragt, ob sie eine Pension kennen. Mit den Handys durchforsten sie das Netz nach weiteren Hotels und freien Unterkünften vergeblich. Und dann bieten sie ihr an, bei ihnen zu übernachten. Sie versichern ihr, dass sie ihre Lage kennen. Auch sie hatten mehrmals kein Dach über dem Kopf und bekamen keine Hilfe. Maletzki schließt daraus, Geflüchteten begegnet zu sein. Ehepaar geht ohne Reaktion einfach weiter Doch in diesem Moment tauchen vor ihrem inneren Auge all die schrecklichen Schlagzeilen der vergangenen Jahre auf. Sie denkt an Fälle, bei denen traumatisierte junge Männer Frauen ohne Respekt behandelten und sie verletzten. Angst breitet sich in ihr aus. Zeitgleich erklingt in ihren Ohren ein einprogrammiertes und altvertrautes Mantra, das die Ingenieurin und Künstlerin von klein auf gelernt hat: "Gehe niemals mit Fremden mit!" Sie sagt den Männern ab. Statt jedoch enttäuscht zu reagieren oder zu gehen, machen sie Maletzki auf ein Ehepaar aufmerksam, das gerade aus einem Hauseingang auf die sonst menschenleere Straße getreten ist. "Vielleicht fühlst du dich wohler, wenn du die fragst", schlagen sie vor. Das berührt die 41-Jährige. Zugleich ist ihr die Situation unangenehm, weil die Männer bemerkt haben, dass sie ihnen nicht vertraut. Doch die beiden Fußgänger reagieren auch nach mehreren Versuchen nicht und ziehen einfach weiter. Plötzlich fühlt sich alles surreal für die Gestrandete an, als sie dem Paar hinterherschaut, fühlt sie sich wie unter einer gläsernen Glocke. So muss das für Menschen wirken, die andere auf der Straße ansprechen und ignoriert werden, denkt Maletzki. Auch die Männer schütteln ungläubig den Kopf und machen ihr erneut das Angebot. Ursprünglich planten sie, gemeinsam zu übernachten und hatten ihr dort ein Zimmer angeboten. Nun wollen sie sich aufteilen. Sie soll entscheiden, zu wem sie geht. Ein Schloss hat die Tür nicht Da sie keine Alternative hat, folgt sie dem Jüngeren. Der 17-Jährige erklärt, dass er seit drei Jahren in Deutschland sei, in einer WG wohne und führt die Frau in eine dunkle, enge Gasse. "Vor meinem inneren Auge tauchen unwillkürlich Bilder von meiner eigenen Beerdigung auf", so Maletzki. Sie hört die Vorwürfe ihrer Mutter: "Wie konntest du nur mitgehen?" In der Wohnung zeigt der junge Mann seinem Gast das Zimmer, deutet auf das Bett, sagt "deins" und verschwindet. Maletzki schließt die Tür und schickt einem Freund zur Sicherheit ihren Standort über das Handy. Dennoch fühlt sie Unbehagen. Ein Schloss hat die Tür nicht. Sie stellt einen Stuhl davor, um zu hören, wenn jemand ins Zimmer kommt. Ein großer Teddybär im Zimmer beruhigt sie. Die Gedanken kreisen. Wen würde sie in ihrem Bett schlafen lassen? Freunde? Nein. Familie? Vielleicht. Fremde? Auf keinen Fall. Jeder andere Mensch, dem sie an diesem Tag begegnet ist, hätte ihr wahrscheinlich einen größeren Komfort bieten können. Scham für das Misstrauen Maletzki döst ein, ist zum Schlafen jedoch viel zu angespannt. Unvermittelt klopft es an der Zimmertür. Es ist noch dunkel. Panik steigt in ihr auf. Sie öffnet, ihr Begleiter hält einen Fahrplan in der Hand und informiert sie über ihren ersten Zug. Er bietet ihr an, sie zu Fuß zum Bahnhof zu begleiten, damit sie den Weg findet. "In dem Moment schäme ich mich für all das Misstrauen, das ich in mir gehabt habe", sagt die 41-Jährige. Am Ziel angekommen, umarmt sie ihn und drückt ihm 20 Euro in die Hand. Ein paar Wochen hat sie gebraucht, um ihr Erlebnis vom 23. Oktober richtig einzusortieren. Inzwischen überlegt sie einmal mehr, was sie tun kann, wenn jemand sie um Hilfe bittet. "Bei all den Debatten über verschiedene Kulturen: Sollten wir uns nicht lieber Gedanken über eine gemeinsame Kultur der Menschlichkeit machen?" fragt sie sich. Zurück in der Heimat bekommt sie nach mehreren Telefonaten in Berufsschulen den Namen ihres Retters heraus. Zu Weihnachten hat sie ihm als Dankeschön ein Paket geschickt.

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