Hoher Bedarf nach Pandemie: Kinder müssen ein Jahr auf Therapieplätze warten

Enger/Spenge. Wenn Kinder in Enger oder Spenge die Hilfe eines Psychotherapeuten brauchen, dann müssen sie im schlimmsten Fall ein Jahr oder länger warten, bevor sie auch einen Therapieplatz bekommen. Denn in den beiden Kommunen gibt es aktuell einen einzigen Psychotherapeuten, der für Kinder und Jugendliche zuständig ist. Seit der Corona-Zeit bemerkt er einen viel höheren Bedarf an therapeutischer Hilfe. &bdquo;Es ist ein durchgehendes Elend“, sagt Christian Halm. &bdquo;Es ist hier nicht anders als woanders auch.“ Seit 2002 betreibt Halm seine Praxis in der Engeraner Innenstadt. In diesem Zeitraum habe sich bei den langen Wartezeiten auf Therapieplätze nichts verbessert, sagt er. Im Gegenteil: Zuletzt habe sich sein Patientenstamm verdoppelt. &bdquo;Viele Praxen führen überhaupt keine Wartelisten mehr, weil sie die gar nicht mehr abarbeiten können. Das ist bei uns auch so“, sagt Halm. In der Praxis hätte die Warteliste nur dazu geführt, dass er betroffenen Familien auch nach anderthalb Jahren hätte sagen müssen, dass es immer noch keinen Platz für ihr Kind gebe. &bdquo;Sie glauben gar nicht, was für Schicksale hier auflaufen, die wir abweisen müssen“, sagt Halm. Dabei gibt es auf dem Papier angeblich genug Therapieplätze im Kreis Herford. &bdquo;Der Versorgungsgrad bei den Psychotherapeuten im Kreis Herford liegt derzeit bei 118,1 [Prozent]“, teilt die Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL) auf Anfrage der NW mit. Es gebe 54,25 Therapeuten im Kreis, &bdquo;davon 12,75 Kinder- und Jugendpsychotherapeuten“ (Stand November 2022). Theoretisch sollte es also genug Therapieplätze geben. Waschzwänge, Angst und Suizidalität Doch in seiner Praxis macht Halm andere Erfahrungen. &bdquo;Am Nachmittag geht es gar nicht“, sagt Halm. Im Schnitt würde es ein Jahr dauern, bis ein Patient nachmittags einen Termin bekommen könne. Akute und dringende Fälle kann Halm nur vormittags unterbringen – also zu Schulzeiten. Die jungen Patienten müssen dann den Unterricht verlassen, zum Teil unter Vorwänden, um nicht für ihre Behandlung stigmatisiert zu werden. &bdquo;Wir sind zu einem 14-tägigen Rhythmus übergegangen“, sagt Halm. Wöchentliche Sitzungen kann er seinen Patienten nur noch in Notfällen anbieten. Dabei brauchen Kinder und Jugendliche aktuell therapeutische Hilfe wie selten zuvor. &bdquo;Corona war wie ein Seebeben“, sagt Halm. &bdquo;Und die Tsunamiwellen kommen nun mit Verzögerung an.“ Denn die Corona-Zeit war besonders für die jüngsten Mitglieder der Gesellschaft psychisch anspruchsvoll. Laut der vielfach zitierten Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zeigten zu Hochzeiten der Pandemie rund ein Drittel aller Kinder Jugendlichen psychische Auffälligkeiten. Dieser Wert ist in der letzten Befragungswelle der Langzeitstudie auf 23 Prozent aller Befragten gesunken, was aber immer noch über dem Niveau von vor der Pandemie (18 Prozent) liegt. Diese Auffälligkeiten können ganz unterschiedliche Ausprägungen haben. Halm berichtet von Kindern, die Waschzwänge ausgebildet haben, Angstsymptomatiken zeigen oder an langen depressiven Phasen leiden. Auch Kinder mit &bdquo;akuter Suizidalität“ gehören zu seinen Patienten. Seit Jahren, aber vor allem in der Coronapandemie, fordern Therapeuten, dass es deswegen mehr Therapieplätze geben müsste. Genauer gesagt, dass es mehr sogenannte Kassensitze bräuchte, denn mehr Therapeuten gibt es tatsächlich. Doch nur bei den von der KVWL als Kassensitz anerkannten Praxen können Patienten mit einer gesetzlichen Krankenversicherung ihre Behandlung vergleichsweise einfach abrechnen, während sie in Privatpraxen zunächst bürokratische Hürden überwinden müssen. Psychotherapeuten kritisieren jedoch die Berechnung, nach der diese Kassensitze verteilt werden – denn die basiert auf Zahlen von 1999. Anhand von Verhältniszahlen wird seitdem festgelegt, wie viele Ärzte und Therapeuten es pro Einwohner geben soll. Über diese Verhältniszahlen entscheidet der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA). Darin sitzen Vertreter von Ärzten, Zahnärzten, Psychotherapeuten, Krankenhäusern und Krankenkassen. Das Warten geht weiter &bdquo;Es ist einfach antiquiert“, sagt Halm. In seinen 20 Jahren auf dem Land habe sich an der Situation nichts verändert. Zum Nachteil der jungen Patienten. &bdquo;Wenn man wartet, besteht die Gefahr, dass sich die Pathologie der Patienten weiter ausbildet“, warnt Halm. Trotzdem bekommt er in seiner Praxis mit, wie Patienten einen regelrechten Kreislauf durchlaufen, bevor sie Hilfe bekommen. Häufig würden Patienten bei ihm wieder aufschlagen, denen er keinen Platz anbieten konnte und die es zunächst erst anderswo probieren mussten – erfolglos. Im April des vergangenen Jahres hatte die NW bei der KVWL angefragt, ob die Berechnungsgrundlage für die Verteilung von Kassensitzen durch die Corona-Pandemie angepasst werden müsste. Damals antwortete die Pressestelle: &bdquo;Inwieweit die Pandemie den Versorgungsbedarf in der Kinder- und Jugendpsychotherapie dauerhaft erhöht hat, darüber liegen unseres Wissens noch keine Gutachten vor, auf deren Grundlage eine Anpassung vorgenommen werden könnte.“ Der Gemeinsame Bundesausschuss würde eine Anpassung aber diskutieren und noch im Frühjahr 2022 darüber entscheiden. Auf erneute Nachfrage in diesem Jahr heißt es: &bdquo;Auf der Bundesebene hat es bislang keine Anpassung gegeben, wir sind hier an die Bedarfsplanungsrichtlinie gebunden.“ Das Warten dürfte also für viele Betroffene weitergehen.

Meistgelesen