Warum Fritz Pleitgen einen Weihnachtsbaum für seine Mutter stibitzte

Bünde. &bdquo;Das hier hat mal in irgendeinem Heimatblättchen gestanden“, sagt Wolfgang Balz und legt ein paar Kopien auf den Empfangstresen der Lokalredaktion. &bdquo;Eine Geschichte von Fritz Pleitgen. Er erzählt darin, wie er als junger Bursche für seine Mutter einen Weihnachtsbaum geklaut hat – und wie ihn danach jahrzehntelang sein schlechtes Gewissen geplagt hat. Vielleicht können Sie das jetzt zur Weihnachtszeit drucken. Wäre doch eine schöne Würdigung. Er ist ja in diesem Jahr gestorben. Und er hat ja auch mal für die Bünder Lokalredaktion gearbeitet.“ Oh ja, das hat er. Und die Geschichte erzählen wir sehr gerne, wenn auch nur in gekürzter Fassung. &bdquo;Die Sache ist längst verjährt“, beginnt Pleitgen, von seinen alten Bünder Freunden immer nur &bdquo;Ulle“ genannt, seine Geschichte. &bdquo;Aber ich werde sie nicht los. Wenn Weihnachten naht, taucht sie wie ein böser Alptraum auf. Ich kann es in einem Satz sagen: Der Anblick von Christbäumen ängstigt mich. Vor allem Christbäume in vollem Lichterglanz versetzen mich in panikartige Erregung. Brennende Kerzen lösen in mir schockartig die Befürchtung aus, gleich könne von den Bäumen ein pestilenzartiger Gestank ausgehen.“ Seit Jahrzehnten schon, so Pleitgen weiter, leide er unter dieser Vorstellung. Darum wolle er sich die Sache nun von der Seele schreiben. "Ein unzuverlässiger Zeitgenosse" 16 sei er seinerzeit gewesen. Und von seiner Mutter beizeiten mit dem Auftrag betraut worden, einen Weihnachtsbaum für die Familie zu besorgen – obwohl er familienintern in dem Ruf gestanden habe, ein unzuverlässiger Zeitgenosse zu sein. Seine Absichten seien die allerbesten gewesen, beteuert Pleitgen. Trotzdem habe er am Spätnachmittag vor dem 24. Dezember immer noch ohne Baum dagestanden. Wichtige Fußballspiele mit seinen Kumpels hätten ihn mehrfach davon abgehalten, seiner Pflicht nachzukommen. Zwischen grauem Schneematsch und übrig gebliebenen und völlig überteuerten Krüppelfichten sei er am 23. Dezember durch die Stadt und von Verkaufsstand zu Verkaufsstand geirrt. In seiner Not habe er ernsthaft in Erwägung gezogen, nach Bremen zu trampen, auf einem Schiff anzuheuern und die Flucht in die weite Welt anzutreten. Dann aber traf er einen Schulkameraden mit demselben Problem. Und etwas später einen weiteren Bünder &bdquo;in den besten Jahren“, der ebenfalls auf Baumsuche war – und die Schüler davon überzeugte, zu dritt ein paar Bäume aus dem Wiehengebirge zu klauen. Etwas mulmig sei ihm zumute gewesen Ein wenig mulmig sei ihnen dabei schon zumute gewesen, aber was sollten sie tun? In einem &bdquo;geräumigen Fahrzeug“ und ohne Licht sei man mit dem Unbekannten in den Berg gefahren – und mit einem Fuchsschwanz bewaffnet in die erstbeste Fichtenschonung marschiert. Etwas später habe man mit ein paar stattlichen Bäumen im Auto und in Hochstimmung den Tatort verlassen. Für die gesparten &bdquo;sieben Mark fuffzig“ habe er der Mutter am nächsten Morgen sogar noch einen Zuckerlöffel als Weihnachtsgeschenk gekauft. Das Fest konnte kommen. Voll des Baumlobes sei die Familie am Heiligen Abend gewesen, besonders die Mutter war sehr stolz auf ihren Filius. Je länger die Lobeshymnen andauerten, desto peinlicher sei ihm die Sache allerdings geworden. Und dieses Unbehagen, erzählt Pleitgen, &bdquo;schlug in helle Panik um, als meine Schwester beiläufig erwähnte, das Klauen von Weihnachtsbäumen würde streng verfolgt. Wer nicht auf frischer Tat ertappt würde, könne auch später noch ertappt werden: Die Revierförster hätten alle Schonungen besprüht. Geklaute Bäume würden in der Zimmerwärme einen bestialischen Gestank entfalten, der durch das ganze Haus zöge“. "Halb bewusstlos vor Angst" &bdquo;Halb bewusstlos vor Angst“ habe er den restlichen Heiligabend verlebt. Auch in den Tagen danach habe er – vor allem in der Wärme der angezündeten Kerzen – jeden Moment damit gerechnet, die Stinkbombe könnte doch noch losgehen. Und selbst, als der Baum im Januar nach draußen getragen wurde, waren die Qualen noch nicht beendet: &bdquo;Als Brennholz wurde er bis zum nächsten Herbst aufbewahrt. Erst als der Baum komplett verfeuert war, konnte ich aufatmen. Aber es war zu spät. Die monatelange Nervenanspannung hatte ihre Wirkung getan“, schreibt er. Das Trauma war da und blieb. Bis heute sei er im Advent immer einer der ersten, die ihren Baum besorgten. Und als Zeugen für die rechtmäßige Beschaffung würde er auch jedes Mal seine Kinder mitschleppen. Am Ende seiner Geschichte schreibt Fritz Pleitgen von seinem Plan, eine Tanne in seinen Vorgarten zu pflanzen. Und von seiner Hoffnung, der Baum könnte ihm irgendwann um die Weihnachtszeit geklaut werden – als ausgleichende Gerechtigkeit sozusagen. Ob es jemals dazu gekommen ist, ist nicht bekannt. Aber der liebe Gott hat Fritz Pleitgen sicherlich auch so verziehen. Allein schon für diese schöne Weihnachtsgeschichte. Vielen Dank dafür. Auch an Wolfgang Balz.

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