Zugunglück von Eschede reformierte den Rettungsdienst auch hier

Bünde/Kreis Herford. Der 3. Juni 1998 hat sich in das Gedächtnis vieler Menschen eingebrannt. Es ist weniger das Datum als vielmehr das damals medienbeherrschende Ereignis an jenem Tag. 101 Menschen kamen bei Eschede im Landkreis Celle ums Leben, als ein ICE bei Tempo 200 wegen eines Defekts an einem Rad entgleiste und an Brückenpfeilern zerschellte. 88 weitere Menschen wurden zum Teil schwer verletzt. Ein kaum fassbares Ereignis, das auch gestandene Rettungskräfte schnell an ihre Grenzen brachte. Das lag nicht ausschließlich an dem, was sie sahen, hörten, erlebten; es war auch die Organisation der Rettungsdienste, in der bislang keine so genannten &bdquo;Großschadensereignisse" berücksichtigt waren. Dieser Unglückstag gilt aus heutiger Sicht auch als Auslöser für eine Neuorganisation des Rettungsdienstes. Ein Teil davon sind die so genannten LNA-Gruppen, in denen die Leitenden Notärzte einer Region organisiert sind. Sie bringen spezielle Voraussetzungen mit. "Eschede war eine Zäsur im gesamten Rettungswesen" Ein guter Mediziner zu sein ist die eine Sache. Leitender Notarzt zu sein die andere. &bdquo;Eschede war 1998 eine Zäsur im Rettungsdienstwesen", sagt Mediziner Marco Kauling vom Klinikum Herford. Er ist einer von 15 Männern und Frauen, die der LNA-Gruppe im Kreis Herford angehören, die seit 2001 in etwa in der heutigen Form besteht. In dem Jahr wurde sie im Kreis Herford gegründet. Mediziner Thomas Jacob aus Herford war Gründungsmitglied und nennt die Intention, die dahinter steckte: &bdquo;Der Grund war, dass wir als Notärzte den Eindruck hatten, dass die Organisationsform der vorher bestehenden LNA-Gruppe nicht mehr ganz dem Stand der Wissenschaft und Technik entsprach. Wir wollten ein System mit durchgehendem Bereitschaftsdienst und besonders ausgebildeten Kollegen auf die Beine stellen und haben uns mit Vertretern des Klinikums und des Lukas-Krankenhauses zusammengesetzt, die die Notarztstandorte stellen. Das gab es so vorher noch nicht." Man habe sich damals an umliegenden Kreisen und Vorreitern orientiert und die Gruppe in Zusammenarbeit mit dem Kreis Herford und den beiden Krankenhäusern gegründet. &bdquo;Das Besondere", so Jacob, der auch Ärztlicher Leiter der LNA-Gruppe ist, weiter, &bdquo;war der Rund-um-die-Uhr-Dienst mit Bereitschaft und die besondere Qualifikation der Kollegen". Ärzte wurden zuvor nach Verfügbarkeit abtelefoniert Die LNA-Gruppe in der vorherigen Form hatte diese Bereitschaft nicht. Ärzte wurden bei Notfällen &bdquo;nach Verfügbarkeit abtelefoniert", erinnert sich Thomas Jacob. &bdquo;Außerdem waren die Mitglieder nicht nur Krankenhausärzte. Auch niedergelassene Kollegen gehörten dazu, die zwar Notarzterfahrung hatten, aber nicht mehr so im Thema waren wie die, die das täglich gemacht haben." Zuvor gab es auch nur wenige Vorbilder oder Beispiele, an denen man sich hätte orientieren können. &bdquo;Eschede hat damals ein Umdenken in der Konzeption des Rettungsdienstes ausgelöst", sagt Marco Kauling. Eine Struktur wie bei der Feuerwehr oder dem Katastrophenschutz habe es bis dahin nicht gegeben. Aus medizinischer Sicht sei Eschede aber sogar noch mit einem glücklichen Umstand verbunden gewesen, sagt Tim-Christopher Lendzian, Chefarzt im Lukas-Krankenhaus und gleichzeitig Leiter der LNA-Gruppe. &bdquo;Zeitgleich fand ein Kongress der Unfallchirurgen in Hannover statt, so dass auch relativ viele Ärzte, die sich in der Traumaversorgung auskannten, vor Ort waren und die auch dort halfen", so Lendzian. "Wie die Feuerwehr brauchten auch wir einen Einsatzleiter" Leitende Notärzte gab es zwar schon länger, aber eine gesetzlich geregelte Beschreibung der Qualifikationen gibt es laut Thomas Jacob erst seit den späten 1990er Jahren. &bdquo;Wie bei den Feuerwehren brauchten wir auch im Rettungsdienst einen Einsatzleiter", sagt Thomas Jacob. Ein Einsatzleiter der Feuerwehr hat zwar die Gesamtleitung, wäre aber fachlich mit der Führung des medizinischen Bereichs bei einer Großschadenslage überfordert. &bdquo;Wir gliedern unseren medizinischen Bereich in verschiedene Schwerpunkte", so Marco Kauling. &bdquo;Dazu zählt zum Beispiel die Erstversorgung der Patienten und die Transportorganisation." Aber was qualifiziert einen Notarzt zum Leitenden Notarzt? Tim-Christopher Lendzian: &bdquo;Zunächst muss man erst einmal ein grundsätzliches Interesse an Notfallmedizin haben. Aber auch die Fähigkeit, unübersichtliche Lagen zu überblicken. Bis zu einem gewissen Maße kann man das lernen, aber man benötigt auch persönliche Voraussetzungen, wie in jedem Beruf." "Nicht jeder Notarzt kann Leitender Notarzt sein" Nicht jeder Notarzt kann auch Leitender Notarzt sein. Lendzian kenne Kollegen, die zwar gute Notärzte seien, die sich selbst aber nie in der Funktion eines Leitenden Notarztes sehen würden und sich das auch nicht zutrauen würden. Aber wie wird man nun Leitender Notarzt? Neben der persönlichen Eignung ist eine &bdquo;mehrjährige Facharzttätigkeit" Voraussetzung, erklärt der LNA-Gruppenleiter Lendzian. Es müssten auch nicht grundsätzlich Notfallmediziner sein. &bdquo;Sie müssen aus einem Fachgebiet kommen, das der Intensivmedizin aber nahe steht. Dazu zählen auch Anästhesie, Innere Medizin und Chirurgie." Aber mindestens ebenso wichtig seien die Ortskenntnisse im Einsatzgebiet, Kenntnisse über Krankenhauskapazitäten auch außerhalb des Kreises. &bdquo;Und wir sind alle aktiv im Rettungsdienst und machen das nicht nur hin und wieder mal nebenbei", betont Marco Kauling. Schon die Einsatzleitstelle der Feuerwehr in Eilshausen alarmiert bei bestimmten Szenarien automatisch den Leitenden Notarzt. Für Tim-Christopher Lendzian war das Ende Januar beispielsweise nach einem Überfall auf den Penny-Discounter in Südlengern so, als die Polizei zunächst von einer Geiselnahme ausging, bei der es im Extremfall zu vielen Verletzten hätte kommen können. &bdquo;Es gibt für uns also immer zwei Möglichkeiten", so Marco Kauling. &bdquo;Entweder wir haben schon viele Verletzte, oder wir haben eine Bedrohungssituation, bei der es kurzfristig zu vielen Verletzten kommen kann." Etwa zweimal im Monat kommt es zu einer Alarmierung des Leitenden Notarztes. &bdquo;Nicht selten passiert das nur zur Sicherheit", sagt Marco Kauling. Es muss nicht immer ein Massenanfall von Verletzten sein Das bedeutet aber nicht, dass etwa zweimal monatlich mit einer Großschadenslage gerechnet wird. &bdquo;Oft sind es weniger medienwirksame Vorfälle. Manchmal ist das auch der Verkehrsunfall mit einer aufwendigen technischen Rettung", so Thomas Jacob. &bdquo;Wenn wir dann merken, dass vor Ort alles klappt, rücken wir als LNA auch wieder ab. Aber lieber einmal mehr als einmal zu wenig alarmieren." Tim-Christopher Lendzian erinnert sich an einen Unfall auf der A30 im vergangenen Herbst. Die Rettung eines verletzten Lkw-Fahrers war aufwendiger und er wurde als LNA hinzugerufen. &bdquo;Die Kollegin vor Ort war dankbar dafür und wir konnten den Verletzten zu zweit versorgen. Das zeigt also, dass es nicht immer der Massenanfall von Verletzten sein muss", so Lendzian. Weitere Beispiele für LNA-Einsätze sind aber auch Evakuierungen für Bombenentschärfungen, Beratung bei Gefahrstoffeinsätzen, wenn das berühmte &bdquo;weiße Pulver" in einem Briefumschlag in einem Postverteilzentrum auftaucht, so Thomas Jacob. Potenzielle Kandidaten werden einfach angeworben Ähnlich wie bei den ehrenamtlichen Feuerwehrleuten muss auch der LNA im Falle eines Einsatzes seinen Arbeitsplatz verlassen. &bdquo;Wir haben da nicht die selben Eintreffzeiten einzuhalten – müssen also nicht in maximal acht Minuten am Einsatzort sein, wie der Regelnotarzt", erklärt Mediziner Tim-Christopher Lendzian. Wenn er beispielsweise als Anästhesist einen Patienten während einer Operation versorgt, muss er diese Tätigkeit im Falle einer Alarmierung an einen anderen Anästhesisten übergeben können. Thomas Jacob: &bdquo;Wichtig ist, dass ich keine Tätigkeit mache, die ich selbst nicht unterbrechen oder übergeben kann." Die Leitenden Notärzte haben immer einen Blick auf die Kollegen – besonders die Neuen – in ihren Krankenhäusern. Kommt jemand als LNA infrage, kann es durchaus sein, dass er für die Gruppe der Leitenden Notärzte angeworben wird. Mit derzeit 15 Mitgliedern habe man aber eine gute Zahl. &bdquo;Die Gruppe darf auch nicht zu groß werden", sagt Thomas Jacob und ergänzt: &bdquo;Man muss noch den Überblick über die Gruppe haben und die Auswahl darf auch nicht beliebig werden."

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