Werther. Es gab kaum eine Situation, die Birgit Günzel nicht kannte: Schnappatmung beim Zubinden der Schuhe, ihr Bauch, der am Lenkrad ihres Wagens hängenblieb, wenn sie aussteigen wollte, die Angst, irgendwo auf einem Stuhl stecken zu bleiben. Am schlimmsten aber waren die Blicke der Passanten auf der Straße, in Geschäften, in Restaurants.
Wer die Wertheranerin heute sieht, kann sich kaum vorstellen, dass sie einmal über 160 Kilo auf die Waage brachte. Nach einer Magenverkleinerung nahm sie 100 Kilo ab, wiegt heute 62 Kilo. Die OP, vor allem aber eine Bielefelder Selbsthilfegruppe hat ihr den Weg aus der Übergewichtshölle geebnet. Was sie dazu brachte, 2017 zusammen mit Bettina Schuitema in ihrer Heimatstadt selbst eine Adipositas-Selbsthilfegruppe zu gründen. "Schwerelos Werther" heißt sie und würde sich über weitere Mitglieder sehr freuen.
Ein Schritt hinaus in die Öffentlichkeit
Dass dieser erste Schritt hinaus in die Öffentlichkeit der Schwierigste sein kann, schwerer noch als das Abnehmen selbst, wissen Birgit Günzel und Bettina Schuitema aus eigener Erfahrung. Zu bequem die Komfortzone des heimischen Sofas und zu groß die Angst vor Verletzungen durch Worte und Blicke. „Viele, die Probleme mit dem Gewicht haben, trauen sich nicht mehr raus", sagen sie.
Zwischen 25 und 30 Menschen haben sich getraut. So viele Köpfe ist die Selbsthilfegruppe derzeit stark. Ein gutes Dutzend ist immer bei den regelmäßigen Treffen dabei. Es sind Männer und Frauen, die jüngste Anfang 20, der älteste gut 70. Sie kommen aus Werther und dem gesamten Altkreis, aus Bielefeld, Gütersloh, Oelde, Warendorf, dem Meller und dem Osnabrücker Raum.
Es gibt keine Tabus
Ein Drittel von ihnen versucht, konventionell abzunehmen, ein Drittel wartet auf einen OP-Termin, das letzte Drittel ist bereits operiert. Manche haben erst wenig Gewicht reduziert, eine Frau dank eines Magenbypasses schon mehr als 100 Kilo, ein Mann dank eines Schlauchmagens fast ebenso viel.
In der Selbsthilfegruppe gibt es keine Tabus, „bei uns wird über alles geredet, alles kommt auf den Tisch", sagt Bettina Schuitema. Von Krankheiten über Körperpflege bis zu Problemen mit der Krankenkasse, „es sind keine Fragen zu doof". Vertrauen und Verschwiegenheit in der Gruppe seien das oberste Gebot, „was in diesen Räumen besprochen wird, bleibt auch hier".
Jeder führt seinen eigenen Kampf
Im Zentrum stehen natürlich Fragen zur Gewichtsreduktion. Auch wenn am Ende jeder seinen eigenen Kampf führt – „mit einer Gemeinschaft im Rücken geht alles einfacher". Die Gruppe sei die größte Motivation, und so wichtig, da das Abnehmen eine Sache des Kopfes sei. „Und der lässt sich leider nicht operieren."
Gesprochen wird in dem geschützten Raum auch über die Verletzungen, die die Männer und Frauen wegen ihres Übergewichts erfahren mussten und müssen. Von Fremden, von Mitgliedern der eigenen Familie, von Sachbearbeitern in Behörden und Krankenkassen. Birgit Günzel kommentiert das so: „Am Gewicht kann man etwas ändern. An der Dummheit der Menschen nicht."
180 Kilo zu ihren schwersten Zeiten
Mindestens so wichtig wie ein gutes Gespräch ist das Lachen in der Gruppe. „Wir haben viel Spaß", sagt Bettina Schuitema. Auch sie selbst hat sich ihren Humor bewahrt, obwohl ihr Weg kein leichter war. Zu ihren schwersten Zeiten wog sie 180 Kilo, nach zwei OPs hat sie inzwischen 60 Kilo verloren. Weitere sollen folgen, doch da sie unter Herzproblemen und einem Lipödem leidet, ist dies nicht so einfach.
Einig ist sie sich mit Birgit Günzel darin, dass sie es ohne Operation nicht geschafft hätte. Und beiden ist klar, dass der Kampf weitergeht. Ihr Leben lang werden sie auf ihr Essen achten und für ausreichend Bewegung sorgen müssen. „Aber ich weiß, wofür ich es mache", sagt Birgit Günzel. „Ich will nie wieder dick sein."
"Ihr wisst nicht, was euch sonst blüht"
Wenn sie heute junge Mädchen mit starkem Übergewicht sieht, möchte sie ihnen am liebsten zurufen: „Zieht einen Strich, heute noch. Ihr wisst nicht, was euch sonst blüht: Herzerkrankungen, Diabetes, Arthrose, Depressionen." Ihr eigener Typ-2-Diabetes ist inzwischen weg, ihre Fettschürze am Bauch, fünf Kilo schwer, auch, Oberschenkel und Arme sind gestrafft.
Die Krankenkasse hat die Kosten übernommen, „dafür bin ich extrem dankbar". Ab und zu gönnt sie sich heute ein Stückchen Schokolade. Doch dabei belässt sie es. Denn es gibt etwas, dass sie sich unbedingt erhalten will: „Du gehst durch die Stadt und keiner starrt dich an. Es kann sich niemand vorstellen, wie schön das ist."