Gütersloh. Als Claudia Anna Schröder-Böwingloh Mitte der 90er Jahre in Gütersloh erstmals Kurse zur Gewichtsreduzierung anbot, da kam nur eine Hand voll übergewichtiger Frauen im Alter zwischen 50 und 70 Jahren. Jetzt, 20 Jahre später, hat sich das Bild komplett gewandelt, denn Deutschland, das belegt die jüngste Studie der Krankenkasse IKK, wird immer dicker.
Betroffen sind mittlerweile auch viele Kinder und Jugendliche. Ärzte warnen seit Jahren vor den gesundheitlichen und psychosozialen Folgen – bisher vergeblich. Für die NW ein Grund, mit der Ernährungsmedizinischen Beraterin Claudia Anna Schröder-Böwingloh (48) zu sprechen.
AB WANN IST MAN DICK?
Laut Weltgesundheitsorganisation haben Menschen mit einem Body-Mass-Index (BMI) von 27 bis 29 Übergewicht. „Bei allem, was darüber liegt, spricht man von Fettleibigkeit, auch Adipositas genannt", sagt Schröder-Böwingloh. Ein 1,80 Meter großer Mann gelte ab einem Gewicht von 91 Kilogramm als über- und ab 97 Kilogramm als stark übergewichtig. Jedoch sei zu beachten, dass bei der Ermittlung des BMI das Alter und das Geschlecht die entscheidende Rolle spielen.
WER IST BETROFFEN?
Der aktuellen Studie der IKK zufolge waren im Jahr 2017 kreisweit insgesamt 51,6 Prozent aller über 18-Jährigen übergewichtig, 2005 waren es noch 46,2 Prozent. Auf die Geschlechter umgelegt ergibt sich ein Anstieg von 54,8 auf 62,4 Prozent bei den Männern und von 38,1 auf 40,6 Prozent bei den Frauen. Im Bundesvergleich lässt sich ein Anstieg von 49,4 auf 53,4 Prozent feststellen, oder anders ausgedrückt: Die Hälfte aller deutschen Frauen und 65 Prozent der Männer bringen zu viele Kilos auf die Waage. „In diesem Jahr könnte Deutschland, gemessen am Verhältnis der Einwohner, erstmals die USA beim Thema übergewichtige Menschen überholen", schätzt Schröder-Böwingloh mit Blick auf den im März erwarteten Bericht der Deutschen Gesellschaft für Ernährung. Erschreckend sei vor allem der Anstieg von übergewichtigen Kindern und Jugendlichen.
WAS IST DER GRUND?
Wenig Bewegung, falsche Ernährung und die Art der Nahrungsaufnahme sorgen für Übergewicht. „Vor allem das sogenannte Snackverhalten, also viele kleine Mahlzeiten zwischendurch, führen dazu, dass der Körper die aufgenommenen Kohlehydrate nicht verbrennen kann." Besser seien täglich drei, maximal vier Mahlzeiten im Abstand von mindestens vier Stunden. Fatal sei jedoch vor allem die falsche Ernährung: So würden billige Fertigprodukte fast immer dick machende Zusätze wie Sorbinsäure, Billigbackwaren minderwertiges Weißmehl statt Vollkorn oder Softgetränke Unmengen an Industriezucker enthalten.
WAS IST DAS PROBLEM?
Nicht selten entwickele sich aus ein paar Pfunden zu viel ein krankhaftes Übergewicht, das nur durch sehr viel Disziplin in den Griff zu bekommen sei, erläutert Schröder-Böwingloh. Erste Beschwerden bei Übergewicht seien Kurzatmigkeit, Schwitzen sowie Kreuz- und Gelenkschmerzen. „Schlimmer sind allerdings die Folge- beziehungsweise Begleiterkrankungen wie Herzprobleme, Bluthochdruck oder Diabetes Typ 2, der früher als Altersdiabetes bekannt war, mittlerweile aber bei fast alle Altersgruppen zu finden ist."
GIBT ES WEITERE FOLGEN?
Neben psychosozialen Problemen wie vermindertes Selbstbewusstsein oder gesellschaftliche Isolation in Folge des Übergewichtes könne eine falsche Ernährung auch zu Lebensmittelunverträglichkeiten wie Laktose- oder Fruktoseintoleranz führen. Diese könnten sich durch Magen- und Darmbeschwerden wie Übelkeit, Krämpfe, Blähungen und Durchfall, aber auch durch Juckreiz und Ausschlag äußern. Zudem sei bekannt, dass Zucker Neurodermitis auslösen kann.
WAS KANN MAN TUN?
„Die meisten Menschen sind sich überhaupt nicht bewusst, was sie den ganzen Tag über in sich hineinschaufeln." Ernährungsberaterin Schröder-Böwingloh rät daher zu Essprotokollen. „Vor allem Jugendliche sind danach oft erschrocken, was sie zwischendurch alles ohne nachzudenken essen." Um nachhaltig abzunehmen beziehungsweise das Gewicht zu halten, sei also zuerst das Bewusstsein für ausgewogene Ernährung und danach eine nachhaltige Ernährungsumstellung nötig. Von Mode-Diäten wie „Low-Carb" sei aus ernährungsmedizinischer Sicht abzuraten, weil im Anschluss nicht nur ein Jojo-Effekt drohe, sondern dem Körper auch Kohlenhydrate vorenthalten würden, die er dann selbst generieren müsse. Ergebnis: „Die Muskelmasse wird weniger, das Fett bleibt."
WAS MUSS SICH ÄNDERN?
„Solange Verbraucher zu billigen und stark zuckerhaltigen Speisen und Getränken aus der Massenproduktion greifen, wird sich von Seiten der Lebensmittelindustrie nichts ändern." Daher müssten Kindergärten und Schulen mit Lebensmittelanalysen das Bewusstsein für ausgewogene Ernährung schärfen und dieses konsequent gelebt werden.
WO GIBT ES HILFE?
Wer sich helfen lassen möchte, kann sich an alle Krankenkassen wenden. Außerdem startet Schröder-Böwingloh, die für beide Gütersloher Krankenhäuser als ernährungsmedizinische Beraterin tätig ist, am Montag, 28. Januar, um 17.30 Uhr ein neues Seminar zum Thema „Gesunde Gewichtsreduktion und Ernährungsumstellung" bei der Ernährungsmedizin im St. Elisabeth Carree. Ein weiterer Kurs wird ab Februar im Städtischen Klinikum starten. Infos und Anmeldung (erbeten) unter Tel. (08 00) 02 36 028 (kostenfrei).