Bewegendes Schicksal: Mutter aus dem Kreis Gütersloh verliert Sohn durch Suizid

Rheda-Wiedenbrück. &bdquo;Mein Sohn ist ins Wasser gegangen“, sagt Hella H., &bdquo;in den Mittellandkanal.“ Eine Spaziergängerin mit Hund sieht auf ihrer Gassirunde um 8 Uhr in der Frühe einen Haarschopf nahe der Uferböschung und ruft die Polizei. Drei Stunden später stehen die Kollegen aus Rheda-Wiedenbrück an der Haustür und informieren die Mutter. &bdquo;Ich konnte nicht schreien, ich konnte nicht weinen.“ Stattdessen greift sie zum Telefon und informiert ihre Tochter Sonja in Berlin, ihren Sohn Olaf in Sri Lanka und weitere Angehörige. &bdquo;Stundenlang habe ich telefoniert und allen erklärt, dass er nie wieder durch diese Tür kommen wird.“ Warum sie genau diesen Satz wählt, weiß sie nicht. Hella H. ist im Ausnahmezustand an diesem Dienstag vor vier Jahren. Philipp hat sich gegen das Leben entschieden, das sie ihm vor 33 Jahre geschenkt hat. Philipp kündigt überraschend seinen Job und weist sich selbst in eine Klinik ein Dass Philipp krank ist, ist der Mutter bewusst. Aber er habe es gut verstecken können, sagt sie. &bdquo;Er war schon immer ein stiller Typ, hat viel mit sich selber ausgemacht.“ 2011 kündigt er überraschend seinen Job als Heilerziehungspfleger in Bielefeld und weist sich selber in die LWL-Klinik Gütersloh ein. Vielleicht eine depressive Phase? Er findet eine neue Stelle in einer Förderschule, begleitet schwerstbehinderte Kinder. 2016 wird Philipp 30 und zieht nach Hannover – raus aus der mütterlichen Wohnung. Zu Hella H. sagt er: &bdquo;Jetzt muss ich mein Leben aber endlich mal in den Griff bekommen.“ Es geht bergab. Nach dem Tod spricht Hella H. mit der Hausärztin ihres Sohnes, will wissen, was sie weiß. &bdquo;Ich hatte das Gefühl, dass es ihm besser geht“, berichtet die Medizinerin und hält sich ansonsten an die Schweigepflicht auch über den Tod hinaus. Dann steht der Plan schon fest - die Entscheidung, zu sterben Später erfährt die Mutter, dass diese Fehleinschätzung vor einem Suizid gar nicht selten ist. &bdquo;Dann steht der Plan schon fest. Die Entscheidung, in den Tod zu gehen, scheint den Betroffenen so etwas wie innere Ruhe zu bringen.“ Dass es Philipp psychisch nicht gut geht, merkt sie, &bdquo;aber mit dem letzten Schritt rechnet man einfach nicht.“ In einem Telefonat am Vorabend fragt sie ihren Sohn: &bdquo;Soll ich zu dir kommen?“ Er lehnt ab. Und beendet das Gespräch mit dem Satz &bdquo;Ich liebe dich“. Sie antwortet: &bdquo;Ich liebe dich auch.“ Das Ordnungsamt in Hannover händigt der Mutter die Wohnungsschlüssel aus und einen Abschiedsbrief. &bdquo;Der ist ein Geschenk“, sagt die 73-Jährige rückblickend. Es gibt einen zweiten Umschlag mit der Aufschrift &bdquo;Die Gründe“. Darin enthalten sind die ärztlichen Befunde rund um die Depression. Lesen Sie auch: Dramatischer Liebesbetrug im Internet - Frau aus Kreis Gütersloh nimmt sich das Leben Mutter sieht ihren Sohn in der Gerichtsmedizin In der Wohnung findet die Mutter einen ganzen Stapel Krankschreibungen. So viele, dass sie es kaum glauben kann. Sie hat sie aufbewahrt und mit anderen Erinnerungen in einem schwarzen Koffer verstaut. &bdquo;Meine Tränenschleusen haben sich geöffnet, als ich ihn drei Tage später in der Gerichtsmedizin gesehen habe. Vorher habe ich nur funktioniert“, sagt Hella H. &bdquo;Ich kann nicht mehr lachen, nicht weinen, nicht schlafen“, schreibt Philipp seiner Mutter in dem achtseitigen Abschiedsbrief. Er habe Angst gehabt, durchzudrehen, dauerhaft in stationäre Behandlung zu müssen. &bdquo;Das wollte er sich ersparen.“ In drei Etappen verfasst Philipp in den Tagen vor seinem Suizid die Erklärung, bedankt sich immer wieder bei seiner Mutter, seinen Geschwistern, seinen Verwandten. &bdquo;Man muss Verständnis für diesen Schritt haben“, sagt Hella H., &bdquo;sonst kommt man nicht zur Ruhe.“ Ein Satz, der jahrelange Trauerarbeit beinhaltet. Vier Suizid-Fälle im Umkreis von 500 Metern Hella H. wendet sich an eine Psychotherapeutin. &bdquo;Nicht für mich, sondern weil ich mehr über die Krankheit Depression erfahren wollte.“ Sie besorgt sich Literatur. &bdquo;Manches konnte ich gut lesen, einige Bücher habe ich nicht ausgehalten.“ Die Seniorin geht von Anfang an offen mit ihrem Schicksal um, spricht mit Freunden und Bekannten über den Suizid ihres Sohnes, um nicht zu ersticken wie sie sagt und um nicht den Rest ihres Lebens mit einer Lüge verbringen zu müssen. &bdquo;Allein im Umkreis von 500 Metern um mein Zuhause kenne ich inzwischen vier Suizid-Fälle. Es passiert viel öfter als man glaubt, nur wird es gerne als Unfall dargestellt, damit die Öffentlichkeit bloß nichts davon erfährt.“ Suizid ist Tabu. Auch ihre Tante hat sich umgebracht Hätte, wäre, wenn – mit diesen Worten fangen viele Fragen in der Trauerarbeit der Angehörigen rund um einen Freitod an. &bdquo;Schuldgefühle habe ich keine“, sagt Hella H., &bdquo;weil wir im Guten auseinander gegangen sind.“ Sie hat sich Hilfe in Gesprächskreisen gesucht. Der bundesweite Verein Agus (Angehörige um Suizid) hat sich vor vier Jahren in Bielefeld gegründet. Hella H. empfindet den Austausch mit anderen Suizidtrauernden als große Hilfe. &bdquo;Es sind richtige Freundschaften daraus entstanden.“ Durch den Austausch mit anderen Betroffenen weiß sie um die verheerende Wirkung von depressiven Erkrankungen. Philipp ist kein Einzelfall. &bdquo;Die Genetik spielt vielleicht auch eine Rolle“, sagt Hella H., &bdquo;mein Bruder hatte zwei Suizidversuche hinter sich.“ Bei dem ersten sei sie noch jung gewesen, die Eltern hätten den Vorfall totgeschwiegen. Vom zweiten Versuch habe sie erst nach Philipps Tod erfahren. &bdquo;Mein Bruder war depressiv und benötigte 30 Jahre lang Medikamente. Aber darüber wurde kaum gesprochen.“ Auch nicht darüber, dass ihre Tante sich 1936 suizidierte. Lesen Sie auch: Tödlicher Unfall, Suizid, Mord - wenn Polizisten selbst Hilfe brauchen Plötzlich taucht ein Tier am Todestag an &bdquo;Meine beiden anderen Kinder und ich sind als Familie näher zusammen gerückt“, sagt Hella H., die seit vielen Jahren verwitwet ist. Die Traurigkeit lebt mit. &bdquo;Man trauert nicht nur ein Jahr. Das ist lebenslänglich.“ Aber da war diese Amsel, die am 12. März 2019 plötzlich auf ihrem Balkon sitzt. Zutraulich wirkt sie. Und sie bleibt. Wochenlang. &bdquo;Ich bin davon überzeugt, dass es Philipp war. Das kann ja kein Zufall sein, dass so ein Tier am Todestag auftaucht, oder?“ Man werde nach einem solchen Schicksalsschlag empfänglicher für solche Signale. Hüpfende Lichtstrahlen im Wohnzimmer registriert Hella H. heute mit einem Schmunzeln, weil sie ein Winken aus dem Jenseits erkennt. Erkennen will. &bdquo;Das Rauschen der Blätter, die Natur, all das wirkt viel intensiver auf mich, als vorher. Ich bin sensibler geworden.“ Zwei Jahre, sagt sie, habe sie nahezu fortlaufend geweint. Auch jetzt noch gebe es diese Trigger-Momente. Dann fließen ganze unverhofft ihre Tränen. Doch Hella H. merkt: &bdquo;Es wird milder.“

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