Foto-Fahndung nach vermeintlichem Sextäter im Kreis Gütersloh hat fatale Folgen

Gütersloh. Auch Polizei und Justiz können mal falsch liegen. Aber wenn nach einer Person öffentlich per Foto gefahndet wird, weil sie vermeintlich einen 14 Jahre alten Jungen während einer Busfahrt sexuell belästigt haben soll, kann das für den Betroffenen tragische Konsequenzen haben. So wie im Fall eines Mannes aus dem Kreis Gütersloh, dessen Bild die Kriminalpolizei Gütersloh und weitere Strafverfolgungsbehörden im vergangenen Jahr für eine Suche im Onlineportal des Landeskriminalamts veröffentlichten, weil sie ihn für einen Sextäter hielten. Offenbar zu Unrecht. Die Staatsanwaltschaft Bielefeld stellte das Verfahren gegen den Beschuldigten mangels hinreichenden Tatverdachts vor wenigen Wochen ein. Stattdessen soll nach &bdquo;NW“-Informationen nun von Amtswegen ein Verfahren gegen den Minderjährigen wegen Vortäuschung einer Straftat eingeleitet worden sein. Für den alleinstehenden 50-Jährigen ein schwacher Trost. Sein langjähriger Arbeitsplatz bei einer Metallbaufirma wurde ihm fristlos gekündigt und damit sein Leben auf den Kopf gestellt. Schwere Vorwürfe gegen Polizei in Gütersloh Den tragischen Fall aus dem Kreis Gütersloh will sein Rechtsanwalt Torsten Giesecke aus Bielefeld nun neu aufrollen. &bdquo;Hier liegt eine Kette an schwerwiegenden Ermittlungsfehlern vor. Die Veröffentlichung des Fahndungsfotos hat bei meinem Mandanten großen Schaden verursacht. Er hat seinen Job verloren. Die Sache hat sich zudem herumgesprochen wie ein Lauffeuer. Man wird gebrandmarkt. Er hatte mehrere Monate schlaflose Nächte und sogar überlegt, wegzuziehen“, erklärt der 55-jährige Strafverteidiger von der Kanzlei &bdquo;Binder und Partner“ jetzt im Gespräch mit der &bdquo;Neuen Westfälischen“. Der Jurist bereitet gegenwärtig eine Schadensersatzklage gegen das Land Nordrhein-Westfalen vor. Aktuell laufe zudem eine Kündigungsschutzklage. Vor allem die Kriminalpolizei in Gütersloh sieht sich im Zusammenhang mit dem ungewöhnlichen Fall mit schweren Vorwürfen konfrontiert. Denn die Behörde hatte die Foto-Fahndung im vergangenen Jahr veranlasst. Rückblende: Am Samstag, 29. Juni 2024, soll sich die angebliche sexuelle Belästigung während einer Busfahrt der Linie 71 von Harsewinkel nach Gütersloh ereignet haben. &bdquo;Während der Fahrt belästigte der Mann den Jugendlichen und fasste ihn sogar an“, heißt es nach Schilderungen der Polizei. Offizielle Angaben beruhen auf Aussagen von 14-Jährigem Die offiziellen Angaben beruhen jedoch auf den Aussagen des 14-Jährigen, der drei Tage nach dem vermeintlichen Vorfall mit seiner Mutter auf der Polizeiwache in Gütersloh erschien und den Fall zur Anzeige brachte. Der Junge gab an, sich gewehrt und am Zentralen Omnibus-Bahnhof (ZOB) in Gütersloh einen Mann um Hilfe gebeten zu haben, der den scheinbaren Täter schließlich zur Rede gestellt und geohrfeigt habe. &bdquo;Danach ist zunächst alles richtig gelaufen“, schildert Rechtsanwalt Torsten Giesecke. Die Kripo Gütersloh habe sich beim Bus-Unternehmen ein Innenraum-Video von der Fahrt der Linie 71 besorgt. Da die weitergehenden Ermittlungen jedoch keinen Erfolg gebracht hätten und man den vermeintlichen Täter nicht habe identifizieren können, ist über die Staatsanwaltschaft Bielefeld im November 2024 beim Amtsgericht Bielefeld die Öffentlichkeitsfahndung beantragt worden. Lesen Sie auch: Hinterhältiger Diebstahl im Gütersloher Bus: Niemand hilft 91-jähriger Rentnerin Der Ermittlungsrichter gab das Vorhaben frei. Im Beschluss vom 6. Dezember vermerkte er laut Anwalt Giesecke, dass der Verdächtige &bdquo;dabei gefilmt“ werden konnte, wie er den Oberschenkel des Jungen gestreichelt habe und versucht hätte, ihm in die Hose zu greifen. Ferner würde es heißen, dass die Veröffentlichung des Lichtbilds &bdquo;in Anbetracht der Schwere der Tat“ verhältnismäßig sei. Vermeintliche Täter erfährt durch Anruf von Fahndung Am 18. Dezember 2024 ist die Öffentlichkeitsfahndung ausgelöst worden. Das Original-Foto wurde für wenige Stunden auf dem landesweiten Fahndungsportal des LKA NRW veröffentlicht. Es zeigt den 50-Jährigen mit Shirt und Basecap im Einstiegsbereich der Buslinie 71. Bei der Polizei Gütersloh hieß es seinerzeit, dass man den Fall aus Opferschutzgründen noch nicht direkt im Sommer öffentlich gemacht habe. Medien berichteten. Der vermeintliche Täter erfuhr bei einem Anruf davon, dass man ihn sucht. Er stellte sich am gleichen Tag auf einer Polizeidienststelle. Vor Ort bekräftigte der Gesuchte einer Beamtin, dass es sich um ein Versehen handeln müsse. Sein Mandant habe erklärt, weder jemanden belästigt zu haben, noch geohrfeigt worden zu sein, so Anwalt Giesecke. Doch der Vorwurf stand im Raum, die Ermittlungen liefen. Für den Verdächtigen begann ein Spießrutenlauf, der in der fristlosen Kündigung Anfang Januar gipfelte – nach 33 Jahren Tätigkeit. &bdquo;Ein Kollege hatte das Foto gesehen und ist zum Arbeitgeber gerannt“, schildert der Strafverteidiger. Video von der Busfahrt: Was die Aufnahmen zeigen Der Bielefelder Rechtsanwalt hat sich das Video der Busfahrt ebenfalls angeschaut. Die Bilder würden zeigen, wie sich sein Mandant auf eine Bank zu dem Jungen geselle, sich aber zum Mittelgang wende. Zwar seien mitunter andere Fahrgäste vor der Kamera hergelaufen und hätten die Sicht für Momente genommen. &bdquo;Aber ein Kontakt oder gar eine Belästigung, wie sie im Beschluss des Amtsgerichts geschildert wird, ist in keinem Fall erkennbar. Die entscheidenden Szenen dauern rund zwölf Minuten“, sagt der Strafverteidiger. Lesen Sie auch: Schwere Vorwürfe nach Tod eines Flüchtlings in Gütersloh: Wurde ihm Hilfe verweigert? Ein weiterer Aspekt soll zeigen, dass die Aussagen das 14-Jährigen nicht stimmen. So sei der Minderjährige gar nicht – wie angegeben – im Bus bis zum ZOB Gütersloh mitgefahren. &bdquo;Er ist drei Stationen vorher ausgestiegen“, erklärt Torsten Giesecke. Nachdem der Anwalt die Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft Bielefeld mitgeteilt hatte, wurde das Verfahren gegen den 50-Jährigen am 25. März dieses Jahres eingestellt. Arbeitgeber nimmt Kündigung nicht zurück Seinen Job hat der Mann indes noch nicht zurück, denn die Metallbaufirma hat die Kündigung nicht zurückgenommen. &bdquo;Vor dem Arbeitsgericht Bielefeld läuft dazu ein Verfahren. Erst nach dessen Abschluss werden wir weitere Schritte einleiten“, erklärt sein Strafverteidiger. Eine Schadensersatzklage gegen das Land NRW ist in Vorbereitung. Man erwäge aber auch, die Möglichkeit einer Dienstaufsichtsbeschwerde zu prüfen, sagt Torsten Giesecke. Seiner Ansicht nach hätten Polizei, Staatsanwaltschaft und Amtsgericht den ungewöhnlichen Fall verhindern können. &bdquo;Ich hätte mir gewünscht, dass die Behörden sorgfältiger arbeiten und sich das Video richtig angesehen hätten.“ Bei der Kreispolizeibehörde Gütersloh erklärt Sprecherin Katharina Felsch: &bdquo;Das Ermittlungsverfahren ist hier gelaufen. Das kann ich bestätigen. Zu mehr kann ich mich zum jetzigen Zeitpunkt nicht äußern.“ Am Amtsgericht Bielefeld erklärt Sprecher Lars Herzog, ebenfalls keine Auskunft geben zu können. Er verweist auf die Zuständigkeit der Staatsanwaltschaft. Das sagt der Staatsanwalt zum Fall in Gütersloh Auch die Staatsanwaltschaft Bielefeld hatte die Videoaufzeichnung aus dem Bus im Laufe des Ermittlungsverfahrens in Augenschein genommen, wie Pressedezernent Philipp Kalbertodt erklärt. Grundlage für den damals gestellten Antrag zur Foto-Fahndung seien &bdquo;die seinerzeit als glaubhaft eingestuften Schilderungen des Anzeigeerstatters sowie die Screenshots aus der Videoaufzeichnung“ gewesen, die unter anderem die Beteiligten nebeneinander im Bus sitzend zeigen würden. Dass nun gegen den 14-Jährigen ermittelt werde, bestätigt der Bielefelder Staatsanwalt indes nicht. Philipp Kalbertodt teilt mit: &bdquo;Da es sich bei dem Anzeigeerstatter um einen Jugendlichen handelt, wird eine Auskunft zu einem etwaigen Ermittlungsverfahren wegen Vortäuschens einer Straftat oder ähnlichem nicht erteilt.“ Auch die im Raum stehende Ankündigung einer Schadensersatzklage sowie die Frage zum Ablauf eines etwaigen Klageverfahrens lässt der Staatsanwalt unkommentiert.

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