Gefängnis und Kinderarbeit: Junge Syrer im Kreis Gütersloh erzählen von harter Flucht

Kreis Gütersloh. Als er in Deutschland ankommt, hat er keinen Koffer dabei, keinen Rucksack. Nicht einmal eine Plastiktüte. Er kommt mit nichts als seinem Leben und ein paar Anziehsachen am Körper. Was er im Gepäck hat, sind schlimmste Gewalterfahrungen. Aber die sieht man nicht. Zwei Jahre braucht Mutasem für seinen Weg von Syrien hierher. &bdquo;Ich habe viele Sachen erlebt, die kein normales Kind erleben würde“, er ist erst 15 und längst erwachsen. Mutasem ist ein sogenannter Unbegleiteter Minderjähriger Asylsuchender (UMA). Das DRK hat ihn im September 2023 in einer eigens dafür ausgestatteten Unterkunft aufgenommen. Die Adresse darf aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden. Als das Assad-Regime am 8. Dezember gestürzt wird, herrscht bei dem jungen Syrer riesige Jubelstimmung. In der Einrichtung kochen sie ein Festessen. Es sind gute Nachrichten. Jedenfalls für den Moment. Inzwischen redet die Bundespolitik offen über die Rückkehr der Kriegsflüchtlinge nach Syrien. Sämtliche Asyl-Anträge sind auf Eis gelegt. Mutasem ist 13, als er von Zuhause fortgeht Mutasems Lebenstraum ist im Behörden-Stapel nach unten gerutscht. Nach ganz unten. &bdquo;Ich möchte einfach mit meiner Mutter zusammen sein, ich vermisse sie.“ Er telefoniert jeden Tag mit ihr. Als er ging, hat er ihr ein Versprechen gegeben: &bdquo;Wenn ich in Deutschland bin, hole ich dich nach.“ Lesen Sie auch: Syrer feiern in der Gütersloher Innenstadt – 16-Jährige teilt bewegende Eindrücke Mutasem stammt aus Aleppo. Er ist 13, als er von Zuhause fortgeht. Zur Schule, sagt er, sei er wegen des Krieges nie gegangen. Lesen und Schreiben hat er mit seinem Handy gelernt. Sein Vater ist von Dschihadisten verschleppt worden und gilt als verschollen. Seine drei Onkel auch. Mit seinen beiden älteren Brüdern macht er sich auf den Weg nach Deutschland. &bdquo;Wir mussten 7.000 Euro an einen Schlepper bezahlen“, weil das Geld erst verdient werden muss, bleibt Mutasem in der Türkei und arbeitet. &bdquo;In einer Fabrik, die Schuhe hergestellt hat“, sagt er. Monatelang verrichtet er Kinderarbeit. Auf die Frage, ob er Gewalt erlebt habe, antwortet Mutasem: &bdquo;In Deutschland nicht. In der Türkei und Bulgarien zu viel.“ Ein Monat Gefängnis in Bulgarien &bdquo;Am schlimmsten“, sagt Marlon Klein, &bdquo;soll es in Bulgarien sein. Es wird mit aller Härte gegen Flüchtlinge vorgegangen.“ Klein ist Betreuer für minderjährige Flüchtlinge und arbeitet als studentische Hilfskraft in der Einrichtung. Zu seinen Schützlingen gehört auch Nofal. Er ist 16 und auch ein UMA. Er flieht zusammen mit seinem Onkel aus Syrien, wird in Bulgarien entdeckt und zurück in die Türkei geschickt. Sie versuchen es erneut. Sie scheitern ein weiteres Mal. &bdquo;Wir wurden in Bulgarien einen Monat im Gefängnis eingesperrt. Es gab nur so viel zu essen, dass man davon nicht sterben konnte.“ Mohammad (16) stammt aus Ar-Raqqa und ist ebenfalls mit seinem Onkel unterwegs, bis der ihn in Bulgarien zurücklässt. Ab da ist er auf sich allein gestellt. Was genau passiert ist, vermag niemand so recht zu sagen. Am wenigsten Mohammad selbst. Seit August lebt er in der Einrichtung. Er wirkt angestrengt und erschöpft. Auf die Frage, ob er sich einsam fühlt, sagt er mit gesenktem Blick: &bdquo;Auf jeden Fall.“ Wie lange er unterwegs war? Er weiß es nicht. Lesen Sie auch: Ehemaliger Gütersloher Flugplatz – Einblicke in neue Wohncontainer für Geflüchtete &bdquo;Es gibt inzwischen Studien“, erklärt Marlon Klein, &bdquo;demnach sind mehr als 80 Prozent der minderjährigen Geflüchteten traumatisiert.“ Kopfschmerzen und Müdigkeit durch immer wiederkehrende Schlaflosigkeit seien an der Tagesordnung. Durch seine zahlreichen Gespräche mit den Jungen kennt er viele Details über Fluchterlebnisse. &bdquo;Die Einsamkeit lässt sie nicht los.“ Immer wieder, so Klein, gebe es schlechte Momente. &bdquo;Dann ziehen sie sich viel in ihre Zimmer zurück.“ Entwicklung im Asylverfahren macht Mutasem traurig Mutasem, Nofal und Mohammad erhalten jeweils 400 Euro pro Monat und müssen damit haushalten. Das Essen muss selbst zubereitet und eingekauft werden. Tagsüber herrscht Schulpflicht. Von einer unbeschwerten Kindheit waren sie schon vorher weit entfernt. &bdquo;Alle hier haben Sorgen und grübeln viel“, sagt Mutasem, &bdquo;aber wir sprechen untereinander nicht darüber.“ Jeder mache das mit sich selbst aus. Mohammad beunruhigt die Entwicklung mit den Asylverfahren. &bdquo;Es macht mich traurig. Aber ändern kann ich es nicht.“ Sein Vater lebt nicht mehr. Sein älterer Bruder ist bereits verheiratet und hat eine eigene Familie. In Syrien, erklärt Mohammad, habe er deshalb für seine Mutter und seine Schwestern Verantwortung getragen. Der 16-Jährige hofft darauf, in Deutschland eine gute Ausbildung, ein Studium machen zu können. Gerne würde er seine Mutter eines Tages hierherholen. Ob sie die neuesten politischen Asyl-Entscheidungen kennt? &bdquo;Nein“, sagt Mohammad. Er hat es ihr noch nicht gesagt. Auch Mutasem hat das Gespräch dazu noch nicht mit seiner Mutter geführt. &bdquo;Vielleicht gibt es ja noch eine kleine Chance.“ Geflüchtete bitten die Deutschen um Geduld Sie sind geplagt von Heimweh. Heimkehr scheint trotzdem ausgeschlossen: &bdquo;Es geht uns hier besser“, erklärt Mutasem. Mohammad ergänzt: &bdquo;Meine Heimatstadt ist völlig zerstört.“ Beide bitten darum, dass die Deutschen noch etwas Geduld haben sollen. Den neuen syrischen Machthabern dürfe man nicht sofort glauben, es seien in der Vergangenheit schlimmste Gräueltaten geschehen und man müsse abwarten, wohin das Land steuert. &bdquo;Wenn man genügend Geld hat, kann man zurückkehren und sich etwas aufbauen. Sonst hat man dort keine Zukunft.“ Lesen Sie auch: Fast 200 Euro mehr im Monat: Wohnen in Unterkunft im Kreis Gütersloh wird deutlich teurer Mohammad öffnet die Tür zu seinem Zimmer. Er zeigt, wie er in der Einrichtung wohnt. Tisch, Stuhl, Bett – 12 Quadratmeter ohne Bild, ohne etwas Persönliches. &bdquo;Niemand hier hat ein Foto von Zuhause aufgehängt“, sagt Marlon Klein und steht damit selbst vor einem Rätsel. Ob sie irgendeine Art von Glücksbringer von Zuhause mitgenommen haben? Mohammad, Mutasem und Nofal zeigen sich amüsiert über die Frage und verneinen. &bdquo;Ich bin oft gefragt worden, ob ich die Flucht aus Syrien gemacht hätte, wenn ich gewusst hätte, was mir alles passiert.“ Und zum wiederholten Mal erklärt der 15-jährige Mutasem, dass er trotzdem von Zuhause fortgegangen wäre. &bdquo;In Syrien wäre ich sowieso langsam gestorben. Deswegen hätte ich lieber diesen Weg gewählt als zu bleiben.“

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