„New York der Aramäer“

Neu in Gütersloh: 23-Jähriger ist weltweit der wohl jüngste aramäische Pfarrer

Raphael Gök ist neuer Priester der Gütersloher St. Stephanus-Gemeinde. Dass diese zu den größten in ganz Deutschland zählt, schreckt Gök nicht ab - im Gegenteil.

Raphael Gök kommt aus Augsburg und pendelt derzeit zwischen Gütersloh und dem Kloster in Warburg. Seit dem 1. Juli wohnt er offziell in Gütersloh. | © Andreas Frücht

Jeanette Salzmann
11.07.2024 | 11.07.2024, 15:33

Herr Gök, seit dem 17. März sind Sie der neue Pfarrer in der syrisch-orthodoxen Gemeinde St. Stephanus Gütersloh. Aber bevor Sie richtig anfangen dürfen, hat der Bischof Sie ins Kloster geschickt. Warum denn?

Raphael Gök: Weil es üblich ist. In der syrisch-orthodoxen Kirche bleiben neue Priester 40 Tage im Kloster, um Spiritualität zu tanken und zu lernen. Es ist eine Art Exerzitien. Meine Zeit ist übrigens jetzt um, ich habe das Kloster in Warburg verlassen.

Sie sind 23 Jahre alt. Sie sind bereits verheiratet. Sonst wäre das Priesteramt in der Gemeinde gar nicht möglich. Sind Sie der jüngste syrisch-orthodoxe Priester?

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Gök: Ja. In Deutschland definitiv. Ich wage zu behaupten, dass ich der jüngste Priester in der ganzen syrisch-orthodoxen Kirche weltweit bin. Ich war 17, als ich ins Priesterseminar gegangen bin. Für mich stand schon früh fest, dass ich Pfarrer werden will.

Die St. Stephanus Gemeinde umfasst rund 450 Familien. Der jüngste Priester übernimmt demnach eine der größten syrisch-orthodoxen Gemeinden in Deutschland. Erschreckt Sie das nicht?

Gök: Nein. Man wächst mit seinen Herausforderungen.

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Ist ausreichend Priesternachwuchs in Ihrer Kirche vorhanden?

Gök: Es gibt im Priesterseminar einige junge Studenten. Aber es wird sehr viel mehr benötigt.

Die St. Stephanus Gemeinde hat nach dem Tod von Pfarrer Djallo mehr als vier Jahre auf einen neuen Priester gewartet. Stand niemand zur Verfügung oder war es schwierig, sich auf die richtige Person zu verständigen?

Anthoni Ersay (Kirchenvorstand St. Stephanus): Beides. Durch die Pandemie hat sich das Thema sehr zäh entwickelt. Wir hatten Kandidaten, aber die waren sehr viel älter als Pfarrer Gök. Wir haben Ziele, die wir erreichen möchten, die passen nicht zu jedem Profil.

Darüber hinaus wurden wir in der Zeit von Priestermönch Gabriel Aktürk betreut, weshalb wir keinen großen Druck bei der Thematik hatten. Wir haben uns entsprechend Zeit gelassen.

Welches Profil haben Sie genau gesucht?

Ersay: Wir möchten die Jugend gezielt ansprechen, das ist uns wichtig. Unser Durchschnittsalter in der Gemeinde ist inzwischen nicht mehr das jüngste, da haben wir in der syrisch-orthodoxen Kirche leider die gleichen Probleme wie in der evangelischen oder katholischen Kirche. Deshalb war uns klar, wir brauchen einen jungen Pfarrer. Jemand, der es schafft, die jungen Leute wieder in die Kirche zurückzuholen.

Also hat der Bischof oder der Gemeindevorstand sie auserkoren für diese Position?

Gök: Laut Satzung ist es der Bischof, der den Priester auswählt.

Ersay: Wir hätten ein Veto-Recht. Aber darüber brauchte in diesem Fall niemand nachzudenken. Im Gegenteil. Wir freuen uns, dass wir einen Pfarrer bekommen haben, der sehr, sehr bekannt ist bei den Aramäern.

Weil Sie mit Pfarrer Daniel Gök aus der St. Maria Gemeinde in Gütersloh verwandt sind?

Gök: Nein, wir haben keine familiäre Beziehung. Ich komme aus Bayern. Aber tatsächlich haben wir jetzt zwei Pfarrer Gök in Gütersloh.

Sie tauschen eine idyllische Landschaft gegen plattes Land. Wie sind denn Ihre ersten Eindrücke von Gütersloh?

Gök: Ich muss ganz ehrlich sagen, mir gefällt Nordrhein-Westfalen mehr als Bayern (lacht). Gütersloh ist übrigens nicht ganz fremd für mich. Ich war mit dem Bischof einige Male hier und in der Umgebung. Ich bin wirklich sehr zufrieden.

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Ersay: Die St. Stephanus Gemeinde hat einen sehr guten Ruf in der syrisch-orthodoxen Kirche in Deutschland.

Warum?

Ersay: Es ist nicht nur der Pfarrer. Es steht und fällt alles mit den Messdienern. Wir haben hier top Leute. Darüber hinaus haben wir verschiedene Gemeindegruppen, die die Kirche am Leben lassen, für die Gemeinde aktiv sind.

Raphael Gök ist neuer aramäischer Pfarrer in St. Stephanus. - © Andreas Frücht
Raphael Gök ist neuer aramäischer Pfarrer in St. Stephanus. | © Andreas Frücht

Sie unterstützen bei Festivitäten wie „Gütersloh International“ und vieles andere. Das ist nicht selbstverständlich. Wir haben einen hohen Standard, die Messlatte ist relativ hoch. Die Schwierigkeit ist, dieses Niveau beizubehalten.

In Augsburg haben Sie für die Caritas gearbeitet. Eine ungewohnte Kombination. Ist das in Gütersloh auch denkbar?

Gök: Ich war Angestellter beim Bistum Augsburg. Ich war Seelsorger für Flüchtlinge und hatte meinen Sitz bei der Caritas. Man muss sehen, welche Projekte sich hier anbieten würden aber wir sind nicht abgeneigt, mit der Ökumene zusammenzuarbeiten.

Stehen sich die syrisch-orthodoxe und die katholische Kirche nahe?

Gök: Von der Glaubensauslegung ja. Es gibt eine Abmachung zwischen unserem früheren Patriarchen und dem früheren Papst, dass die Sakramente gegenseitig gespendet werden dürfen.

Mit der evangelischen Kirche sind wir theologisch nicht eins. Die Ökumene ist aber auch hier vorhanden. Das ist uns sehr wichtig.

Was werden die ersten Projekte sein, die Sie in der Gemeinde umsetzen wollen?

Gök: Mein großes Thema wird die Jugendarbeit sein: Vorträge, Bibelstunden und vieles mehr. Das ist eine Aufgabe, bei der Priester und Gemeindevorstand eng zusammenarbeiten müssen.

Ersay: Durch die Priester-Vakanz und durch die Pandemie ist in den vergangenen Jahren vieles in der Jugendarbeit weggebrochen. Jetzt hat es bereits die erste Sitzung mit unserer Jugendgruppe gegeben, nächste Woche wird die Sprachschule einen Ausflug unternehmen. Es soll auch Spaß dazugehören.

Sie greifen also gleich nach dem schwierigsten Thema.

Gök: Ja, aber ich bin zuversichtlich. Junger Priester, frischer Wind! Ich merke, dass die Jugend durstig ist. Ich merke, dass sie sehr viele Fragen hat. Und ich hoffe, dass ich auf all das Antworten habe.

Während viele ältere Aramäer nicht so gut Deutsch können, sprechen viele junge Aramäer in Gütersloh kaum Aramäisch. Auch die Schrift geht verloren. Sehen Sie hier Probleme?

Gök: Aber natürlich. Wir haben eine Kirchenschule hier in St. Stephanus, die dreimal in der Woche tagt. Es ist unsere Aufgabe, die aramäische Sprache zu fördern. Dazu gehört die Sprache, Gebete, Gesänge und vieles mehr.

Ersay: Es ist das vielleicht größte Problem der aramäischen Christen in Deutschland. Wir verlieren unsere Sprache. Dagegen müssen wir ankämpfen.

Wie steht es um ihre finanziellen Möglichkeiten, die Aufgaben zu stemmen? Gibt es auch bauliche Wünsche oder Pläne?

Ersay: Die Einnahmequelle sind die Gemeindemitglieder. Unsere Arbeit ist rein spendenbasiert. Auch das Gehalt von Pfarrer Gök. Rechtlich sind wir ein eingetragener Verein. Wir haben keine Institution hinter uns, die uns fördert. Im Gegenteil.

Wir geben von unseren Spenden der Diözese etwas ab. Weil wir eine große Gemeinde sind, sind wir finanziell unabhängig. Mit dem was wir haben sind wir zufrieden, wir haben gute Möglichkeiten.

Baulich werden wir nichts verändern, wir werden die Jugendräume jetzt mit mehr Technik ausstatten, denn mit einem Bücherregal voller Bibeln können wir nicht in die Zukunft starten.

Wie viele aramäische Familien gibt es im Kreis Gütersloh?

Ersay: Man spricht von ungefähr 10.000 Familien. In Gütersloh sollen es etwa 12.000 Personen sein.

Genaue Zahlen gibt es nicht?

Ersay: Nein, es gibt keine öffentliche, digitale Mitgliederstatistik. Weder in Gütersloh noch in ganz Deutschland. Das ist ein generelles Problem, wir müssen an dieser Stelle dringend moderner werden und investieren. Aber das ist ein Mammutprojekt.

Trotzdem ist klar, dass Gütersloh die Stadt ist, in der die meisten aramäischen Christen leben?

Gök: In Deutschland ist Gütersloh unsere Hauptstadt. In Europa ist es die Nummer zwei nach Schweden. Es gibt wohl keinen Aramäer weltweit, der die Stadt Gütersloh nicht kennt.

Ersay: Das New York der Aramäer ist Gütersloh.

Nach einem Jahrhundert der Verfolgung, Kriege und Vertreibung hatte eine Rückkehr der Aramäer in ihre historische Heimat im Südosten der Türkei begonnen. Häuser wurden renoviert. Wie bewerten Sie diese Tendenz?

Gök: Tatsächlich haben wir einige Familien, die mehrere Wochen im Jahr in die alte Heimat gehen und dort Zeit verbringen. Ich glaube nicht, dass es mehr werden.

Ersay: Auch ich war schon einige Male dort, aber verglichen mit Europa ist es eine andere Welt. Es ist die Sehnsucht der ersten Generation, denn niemand hat freiwillig die Heimat verlassen. Inzwischen sind Aramäer in Deutschland gut integriert.

Ehrlich gesagt sind wir fast assimiliert, wir haben beinahe alles vergessen, was wir mitgebracht haben. Ich finde, wir dürfen unsere Wurzeln und unsere alte Heimat nicht vergessen. Die Moderne soll nicht konkurrieren mit der Tradition. Es muss Platz für beides sein.