Das ist Güterslohs wohl unterschätztester Ortsteil

Gütersloh. Welch ein Umfang: 126 Seiten! So viel umfasst die neue Ausgabe der &bdquo;Gütersloher Beiträge“, und das, obwohl sie monothematisch ist: Sie behandelt ausschließlich Blankenhagen. Jenen Ortsteil also, den viele Gütersloher abgehakt und in eine Schublade einsortiert haben. Jenen, von dem viele nicht mal wissen, dass sie mitten drin leben. Jenem, dem viele Unrecht tun, weil er größer, vielfältiger und lebenswerter ist als man gemeinhin denkt. Auf 126 Seiten ist das nun belegt. Geschrieben vom Poahlbürger Gerhard Piepenbrock, ergänzt um einen kirchengeschichtlichen Teil von Pfarrer Fritz Stegen, liefert die Chronik einen umfassenden Einblick in die Vergangenheit und Gegenwart der Bauerschaft Blankenhagens. Anlass ist deren 800-jähriges Bestehen. Wobei, so hundertprozentig verbürgt ist dieses Jubiläum nicht: Im Archiv des Kreises und der Stadt Gütersloh gibt es keine Gründungsurkunde dazu. Allerdings finden sich Sekundärquellen, die auf eine Ersterwähnung Blankenhagens 1222 hinweisen. Dass die Chronik so gesehen ein Jahr zu spät zum 801. Geburtstag erscheint, sei den Autoren nachgesehen. Umso gründlicher haben sie recherchiert, umso sorgfältiger haben sie das Heft gestaltet. Es liest sich leicht und süffig, es ist garniert mit Fotos, Exkursen und Anekdoten, es ist gut gegliedert und graphisch ansprechend. Ursula Höffer, Vorsitzende des Bürgervereins, findet es &bdquo;herausragend“. Warum war die Namensfindung in Kattenstroth und Spexard einfacher? Ohnehin weiß man, dass Blankenhagen bereits vor 1222 besiedelt war. Die beiden Meierhöfe gab es längst, Langert (Langenhart) gesichert seit 1201, Raßfeld (Radesfelde) seit 1088, weitere Höfe wie Piepenbrock (von dem der Chronist stammt), Nottbrock/Höner, Hark oder Welpmann existierten ebenfalls schon. Sie alle siedelten auf einem Gebiet, das von einem &bdquo;Hagen“ begrenzt war, einem aufgeschütteten Wall also, einem Landwehr, der ihr Territorium zur Grafschaft Ravensberg abgrenzte und der offenbar &bdquo;blank“ war, unbepflanzt, unbewaldet. Gleichwohl wirft der Name eine Frage auf: Warum hat sich man dafür entschieden? Weil es mit Langert und Raßfeld gleich zwei Meierhöfe gab und diese sich nicht einigen konnten, wer namensgebend sein durfte? Nordhorn, Pavenstädt, Kattenstroth oder Spexard, wo es jeweils nur einen Meierhof gab, nämlich den gleichen Namens, hatten es leichter: Dort entwickelte sich die Angelegenheit von selbst. Womöglich war die Namensfindung in Blankenhagen auch deswegen schwierig, weil die Meierhöfe unterschiedlichen Herrschaften gehörten: Der Meier zu Langenhart, Hofnummer 1, Grundfläche 558 Morgen, gehörte zum Grafen von Rietberg, der Meier Rassfeldt, Hofnummer 2, Grundfläche 290 Morgen, durch Schenkung dem Zisterzienserkloster Marienfeld. Lesen Sie auch: Den Nachnamen dieser Geschwister kennt in Gütersloh jeder Wie war das Leben in einer Bauernschaft organisiert? Wie die Meierhöfe und die anderen Höfe im Laufe der Jahrhunderte immer mal wieder ihre Zugehörigkeiten wechselten, wie sie nach dem Grundsatz &bdquo;cuius regio, eius religio“ (wes’ des Land, des’ die Religion) ihre Konfessionen änderten, wie das mittelalterliche Lehnswesen das Los der Bauernfamilien bestimmte, wie die Einteilung in Erbkötter, Markkötter, Brinklieger und Erbpächter erfolgte, wie sich das in den Lebensverhältnissen in den Kotten, Backhäusern und Leibzuchten niederschlug, wie die Menschen in teils jahrzehntelangen Prozessen um Wasser- und Mahlrechte stritten. Wie die gemeinschaftlich als Allmende genutzten Flächen irgendwann verteilt und in kleine Siedlungsstellen gewandelt wurden, wie die preußischen Sozialreformen und die Bauernbefreiung die Bauern zwar aus ihren Leibeigenschaften lösten, sie über die Ablösen aber noch lange ihren Lehnsherren verpflichtet waren, wie der Meier zur Langert in einem Prozess beinah hundert Jahre darum stritt, in der Pankratius- (heute: Apostelkirche) bestimmte Kirchenbänke nutzen zu dürfen - all das erzählt Gerhard Piepenbrock überaus anschaulich und historisch einordnend. Das Leben in einer Bauernschaft, in diesem kleinsten gemeindlichen Verband: Wer sich fragt, wie das organisiert gewesen sein mag und wie es sich entwickelte, er wird auf diesen 126 Seiten einigen Aufschluss darüber bekommen. Bewohner zeichnet ein besonderes Wesensmerkmal aus Piepenbrock vergisst dabei nicht, die überragende Bedeutung der Textilwirtschaft hervor zu heben - kaum jemand, der nicht Flachs anbaute. In einem Register, 1738 erstellt, waren in Blankenhagen 75 Heuerlingsfamilien in 41 Kotten verzeichnet, 71 davon gaben als Haupt- und Nebenerwerb die Garnspinnerei an. Was für Gütersloh, das Heidedorf, Stadt der Weber und später der Textilfabriken gilt, galt für Blankenhagen nicht minder: Die Textilfabrikation dominierte weite Teile des Alltags. Und während in Gütersloh heute nur noch die Bandweberei Güth & Wolf existiert, ist es in Blankenhagen &bdquo;Mona Lisa“ von Höffer und Düspohl, ein Unternehmen für Damenoberbekleidung. Dass die Blankenhagener immer mal wieder neuen Herren dienten, dass ihr Gebiet einem Flickenteppich mit wechselnden Nachbarschaftsverhältnissen glich, dass sie den Niedergang der Textilwirtschaft durchlitten, all das führt Piepenbrock zu einer Schlussfolgerung, die interessant ist: Die Blankenhagener seien es gewohnt, Grenzerfahrungen zu machen. Sie mussten sich mit Menschen unterschiedlicher Konfession nachbarschaftlich arrangieren, sie mussten Widerstandskraft lernen. Beides, so Piepenbrock, befähige sie, in heutiger Zeit ein konfliktfreies Leben mit vielen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Traditionen gemeinschaftlich zu leben. &bdquo;Die Blankenhagener kennzeichnet seit Urzeiten das, was man heute Resilienz nennt“, sagt Piepenbrock: &bdquo;die Fähigkeit, mit Problemen klar zu kommen.“ Ein Imageschaden? Der Chronist schlägt damit die Brücke zu jüngeren Zeiten, jenen des Zuzugs. Blankenhagen wurde Multikulti. Die Gastarbeiter kamen, die Aramäer, die Engländer, die Spätaussiedler, später die Werksarbeiter aus Polen und Rumänien und schließlich, bis in die Gegenwart hinein, die Flüchtlinge. Der Wohnungsdruck war enorm und führte dazu, dass in Blankenhagen-West, rund um die Hofbrede/Dresdner Straße, Hochhäuser entstanden, die Teile des Ortes zu einer Satellitenstadt degenerieren ließen, verbunden mit Arbeits- und Sozialproblemen und einem tiefgreifenden Imageschaden. Blankenhagen-Ost hingegen, mit dem Siedlungsschwerpunkt rund um Kahlertstraße/Austernbrede entwickelte sich gedeihlich, bis heute. Die Absicht allerdings, die beiden Siedlungen zu vereinen, ließ sich nicht umsetzen. Die Einflugschneise des Flughafens und die Hochspannungsleitung, unter der nicht gebaut werden durfte, machte das zunichte. Für allzu viel Ökumene direkt einen Rüffel eingefangen Diese Siedlungslücke ist es wohl auch, die viele Bürger zu der Annahme verleitet, Blankenhagen bestehe nur aus dem Torso rund um die Blocks. Der Irrtum ging ihnen erst auf, als der Bürgerverein vor einiger Zeit an den Bauerschaftsgrenzen die hölzernen Tafeln mit dem Wappen aufstellte: Was, das alles gehört dazu? Ich, ein Blankenhagener? Tatsächlich ist der 1910 eingemeindete Ortsteil überraschend groß: Von den 112 Quadratkilometern Güterslohs nimmt er mit seinen 11,6 Hektar ziemlich exakt ein Zehntel ein. Während Piepenbrock auf den 126 Seiten neben der Siedlungsgeschichte auf vieles Weitere eingeht, etwa die Entwicklung der Schullandschaft, die Vereinsstrukturen und die bröckelnde Dienstleistungsstruktur, fokussiert sich Co-Autor Fritz Stegen auf die Kirchengeschichte. Wie kam es, dass man vier evangelische Kirchen baute, von denen nach aktueller Beschlusslage keine einzige mehr bleibt? Warum ist die Ökumene in Blankenhagen derart ausgeprägt? Wie sind die Aramäer als Angehörige der syrisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft integriert? Auch Stegen weiß lebendig und anekdotenhaft zu erzählen, etwa wenn er von einer Begebenheit berichtet, die das katholische Erzbistum einst unerhört fand: Bei einer gemeinsamen Messfeier wurde Protestanten und Katholiken das Abendmahl beziehungsweise die Kommunion gereicht; als Paderborn davon erfuhr, sprach es umgehend ein striktes Verbot aus und ordnete an, dass nur noch Wortgottesdienste ökumenisch gefeiert werden dürften. Dass die Chronik viele Leser findet, dieser Wunsch der beiden Autoren ist naheliegend. Doch Piepenbrock und Stegen wünschen sich mehr: Dass Blankenhagen mit seiner Naturnähe, seiner Ruhe und seiner hohen Lebensqualität als das angesehen und weiter entwickelt werde, was es sei: ein schönes Fleckchen Erde.

Meistgelesen