"So viel hatten wir noch nie" - Zahl der Schüler ohne Abschluss steigt dramatisch

Während viel übers Abitur diskutiert wird, hat die Bertelsmann Stiftung neulich in einer Studie erschreckende Zahlen auf den Tisch gelegt. Immer mehr Schüler fallen komplett aus dem System und schaffen keinen Schulabschluss. Stimmt das? Kreutzkamp: Ja. In einschlägigen Klassen machen wir genau diese Erfahrung. Was meinen Sie mit einschlägigen Klassen? Kreutzkamp: Das sind Klassen im Übergangssystem, in den einjährigen Berufsfachschulen und in der Ausbildungsvorbereitung mit Schülern, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht ins Ausbildungssystem gekommen sind. Entweder weil eben kein Schulabschluss vorliegt, der Abschluss so schwach war, dass sie sich im Bewerbungsverfahren nicht durchsetzen konnten oder weil sie am Ende der Sekundarstufe I beruflich noch orientierungslos sind. Dies ist ein neues Phänomen seit der Coronazeit. Über wie viele Schüler reden wir konkret? Bunte-Drewell: Am CMB sind das drei Klassen mit insgesamt 40 Schülerinnen und Schüler, die noch keinen Schulabschluss haben, nicht gerechnet die Schüler, die erst seit kurzem in Deutschland sind. So viel hatten wir noch nie. Dass wir eine dritte Klasse benötigen, hat sich auch nicht gleich zu Beginn des Schuljahres dargestellt. Sie hat sich nach und nach gefüllt, denn in vielen Beratungsstellen, beim Jobcenter oder im Jugendamt wurde plötzlich festgestellt: &bdquo;Hoppla, die haben ja gar keinen Abschluss“. Wie kann so etwas passieren? Bunte-Drewell: Mit der Versetzung in die zehnte Klasse ist der erste Abschluss geschafft. Oftmals hoffen Schüler noch bis kurz vor den Sommerferien, den Sprung in die Klasse zehn hinzubekommen. Wenn dann keine Versetzung erfolgt, ist das Dilemma groß – vor allem wenn die zehn Pflichtschuljahre vorbei sind. Und wie geht es für diese Jugendlichen weiter? Kreutzkamp: Die meisten Schüler aus der Stadt Gütersloh, die noch berufsschulpflichtig sind, die ihre Sek I-Schulen verlassen müssen, keine Oberstufenzulassung und keinen Ausbildungsplatz haben landen bei uns am Carl-Miele-Berufskolleg oder bei unseren Nachbarn, dem Reinhard-Mohn-Berufskolleg. Wir nehmen alle und bieten jeden Abschluss an. Deshalb bezeichne ich Berufskollegs oft als die wahren Gesamtschulen der Sek II. Die Alternative zu uns ist in Gütersloh das Kolping Berufskolleg als private Schule. Andere Möglichkeiten gibt es nicht. Übrigens: Man ist berufsschulpflichtig bis zum Ablauf des Schuljahres, in dem man 18 geworden ist. Viele wissen das nicht. Die Überwachung der Berufsschulpflicht obliegt in Gütersloh in letzter Instanz dem Carl-Miele-Berufskolleg. Bedeutet, Sie haben ein Jahr Zeit, um die Defizite der Vergangenheit auszubügeln und Schüler zum Abschluss zu bringen? Kreutzkamp: Genau. Manchmal ist es noch nicht einmal ein volles Schuljahr. Wir fangen hier oft bei Null an. Und es kommen Menschen, die große Probleme mitbringen, schwierige Familiensituationen, frühe Mutterschaft, Drogenkonsum, gebrochene Schullaufbahnen. Manche haben gesundheitliche Handycaps, wie zum Beispiel psychische Störungen. Wir müssen diese Schüler innerhalb kürzester Zeit kennenlernen, uns eine Strategie überlegen, wie sie am besten bei uns lernen können, und sie motivieren, das auch zu tun. Reden wir über ein Versagen der Regelschulen oder über ein Elternversagen? Kreutzkamp: Ich finde, es kommt alles zusammen. Vieles liegt bei den Eltern. Das zeigt sich schon daran, dass wir manche Eltern gar nicht erreichen. Wir schreiben sie dreimal an, bevor eine Reaktion erfolgt. Oder Eltern kommen und teilen uns mit, dass sie keinen Einfluss mehr auf ihr Kind haben. Sie zeigen uns, dass sie im Grunde hilflos sind. Unsere Elterngespräche finden zumeist mit den Müttern statt, Väter sehen wir selten. Wir erleben am CMB tendenziell die vaterlose Gesellschaft. Inwieweit das System verantwortlich ist? Sicherlich könnte die Kooperation einiger Schulen mit uns besser sein. Wir könnten viel früher ansetzen bei genau dieser Schülergruppe, die voraussichtlich ohne Erfolg die Sekundarstufe I abschließt. Das würde uns und den Schülern helfen. Bunte-Drewell: Die Kooperation mit dem Wertkreis und den Förderschulen funktioniert vorbildlich. So würden wir uns das von allen Sek I-Schulen wünschen. Mein Eindruck ist, dass die Schulsozialarbeit das an den anderen Schulen mitunter zu spät mitbekommt, wenn der erste Abschluss nicht erreicht wird. Auch hier findet selten ein Austausch mit uns statt. Wie viele Schüler schaffen den Schulabschluss nach Klasse 9 bei Ihnen? Kreutzkamp: Bei den Schülern, die sich auf uns einlassen, haben wir eine Erfolgsquote von 80 bis 90 Prozent. Insgesamt ist die Quote etwas niedriger. Es gibt Schüler, die erreichen wir nicht. Bunte-Drewell: Je besser es uns gelingt, eine Bindung aufzubauen, umso erfolgreicher verlassen sie das Berufskolleg. Reden wir in der Mehrzahl über Jungs oder Mädchen, die ohne Schulabschluss ans CMB kommen? Bunte-Drewell: Die Klassen sind inzwischen gemischt. Der Anteil der Mädchen ist größer geworden. Als ich hier vor zehn Jahren angefangen habe zu arbeiten, waren es hauptsächlich Jungs. Früher galten Förderschüler als die schwierigste Gruppe. Hat sich das geändert? Bunte-Drewell: Ja, denn sie kommen mit einer ganz anderen Motivation zu uns. Viele möchten endlich mal ein ’richtiges’ Zeugnis mit Noten haben. Ihr Ziel ist oft klar definiert. Das ist eine andere Grundvoraussetzung, als wenn die Jugendhilfe oder Bildungsträger anrufen und einen Schüler anmelden, der schon seit Wochen nicht mehr in der Schule gesehen wurde. Die bundesweite Statistik zeigt, dass seit 2013 die Zahl der Schüler steigt, die keinen Abschluss schaffen. Sie liegt bei knapp zehn Prozent. Steckt dahinter maßgeblich das Schicksal junger Menschen mit ausländischen Wurzeln? Bunte-Drewell: Nicht maßgeblich. Ich beobachte bei einigen Schülern mit Migrationshintergrund häufig, dass sie innerhalb des Familiensystems eine diffizile Bindung haben. Sie wissen oft nicht wohin mit sich und fehlen in der Schule. Kreutzkamp: Viele zugewanderte Schüler beißen sich hier mit wenig Voraussetzungen durch, sind wahnsinnig ehrgeizig. Andere verweigern leider das weitergehende Deutschlernen, weil sie das Gefühl haben, dass sie ausreichend zurechtkommen. Allen gemeinsam ist, dass sie oft einen Hintergrund haben, der Motivation nicht fördert, der vielleicht auch zum Schulbesuch die Sinnfrage stellt, weil die Prioritäten in ihren Familien anders gesetzt sind. Bunte-Drewell: Das Reiben mit den Eltern, das fehlt. Diese jungen Menschen reiben sich mit den Lehrern oder mit uns Sozialarbeitern. Deshalb fehlt ihnen auf der Schule oft die Perspektive. Wenn wir versuchen, das zurechtzurücken, dann geht das nur in mühsamen kleinen Schritten. Viele schieben aus diesen und anderen Gründen wahnsinnig viel Frust und wissen nicht, warum sie sich jetzt auf einmal anstrengen sollen. Ein Leben ohne Schulabschluss mündet häufig in einer prekären Lebenssituation. Müsste die Ernsthaftigkeit der Situation früher und stärker vermittelt werden? Kreutzkamp: Ja. Viele Schüler haben tatsächlich nicht begriffen, dass man einen Schulabschluss nicht einfach nachholen kann. Weil viele Eltern das auch nicht wissen, bleibt nur die Schule übrig, die es vermitteln sollte. Das scheint aber häufig nicht zu gelingen. Werden die schwachen Schüler im Regelsystem zu wenig gesehen? Kreutzkamp: Sie sind zeitintensiv, wenn man sich ausreichend mit ihnen beschäftigen will. Damit wir selbst nicht der Neigung unterliegen, die schwächeren Schüler nicht genug zu sehen, versuchen wir, die Klassengröße gering zu halten. Bei zu großen Klassen setzen sich dann wieder nur die stärkeren Schüler durch. Bei der dritten Klasse können wir diesen Grundsatz aktuell nicht mehr durchhalten. Es sind einfach zu viele gekommen. Rechnen Sie mit weiteren Zugängen? Kreutzkamp: Ja, in die Ausbildungsvorbereitung werden noch weitere Schüler im Laufe des Schuljahres kommen. Hat die Schließung der Hauptschulen eine unmittelbare Auswirkung auf das Carl-Miele-Berufskolleg? Kreutzkamp: Die Hauptschulen haben uns zum Beispiel gezielt in die Praktikumsklassen mit Schülern mit besonderem Förderbedarf eingeladen. Es bestand ein enger Kontakt. Bunte-Drewell: In den Hauptschulen gab es kleine, funktionierende Systeme und eine gute Schulsozialarbeit. Die Kompetenz, die dort vermittelt wurde, haben die Schüler mitgebracht. Das fällt jetzt weg und diese Auswirkungen spüren wir. Neben der Schulbildung versuchen Sie hier die Integration auf dem Arbeitsmarkt hinzubekommen. Hoffen die Betriebe in Wahrheit immer noch auf einen Azubi-Typus, den es gar nicht mehr gibt? Bunte-Drewell: Ja. Mathe Note zwei, zuverlässig, pünktlich, ohne Fehlstunden. Kreutzkamp: Die Betriebe haben ein Bild im Kopf, wie ein Azubi sein sollte. Bringt er diese Voraussetzungen mit, nehmen sie ihn, egal aus welchem Heimatland er kommt. Wenn wir nun den druckfrischen Ausbildungsatlas vom Kreis Gütersloh, Stadt Bielefeld und Umgebung durchblättern, entdecken wir darin nur blonde Vorzeige-Azubis. Der Realitäts-Check sieht anders aus. Das macht es Ihnen nicht gerade leicht, oder? Bunte-Drewell: Ja, und ich bedaure dieses verschobene Bild sehr. Sie finden allenfalls im Bereich Pflege mal ein Foto von einem ausländischen jungen Menschen. Manchmal registriere ich in Azubi-Stellenanzeigen auch Personen mit asiatischem Aussehen. Kein Wunder, denn damit verbinden wir die begehrten Adjektive zuverlässig, fügsam, strebsam. Wir haben hier 499 Azubis unterschiedlichster Herkunft im ersten Ausbildungsjahr am Berufskolleg, denen auch an vielen Stellen noch Wissen fehlt. Aber sie stehen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Und ich finde, sie haben eine ehrliche Chance verdient. An dieser Stelle setzt auch unser Azubi-Förderprogramm &bdquo;Abschluss statt Abbruch“ (AstA) an, das wir schon seit mehreren Jahren dank der Unterstützung der Osthushenrich-Stiftung durchführen können. Viele Betrieben klagen über Nachwuchsmangel. Sind sie selber Schuld? Bunte-Drewell: Das darf man nicht pauschalisieren. Es gibt viele Betriebe, die im Vorfeld Praktikumsplätze zur Verfügung stellen, die bereit sind, mit ihren Azubis zu arbeiten und auch zu investieren – etwa in zusätzlichen Deutschunterricht. Aber es gibt eben viele Betriebe, die davon ausgehen, dass ein Azubi in ihrem Sinne von Anfang an funktionieren muss. In dem Moment, wo sich Betriebe einlassen und einen Azubi auch mal fragen ’wie geht es dir hier bei uns’ wird viel aufgefangen, weil die Beziehung dann eine andere Qualität annimmt. Damit werden Abbrüche vermieden, das ist oft nicht klar. Sind Sie für eine Ausbildungsplatzgarantie? Bunte-Drewell: Das wird bei uns heiß diskutiert. Ich bin mir offen gestanden nicht sicher, möchte an dieser Stelle aber meine Kollegin Günay Ucar zitieren: Solange ausschließlich Ausbildungsbetriebe darüber entscheiden, wer und ob eine Ausbildung beginnt, werden Schüler mit niedrigem Schulabschluss sowie Schüler aus prekären Verhältnissen benachteiligt. Die Politik hat den Schulen in der Coronazeit zusätzliche Mittel zur Verfügung gestellt. Sind die etwa nicht angekommen? Kreutzkamp: Doch. Die Nachholprogramme, die vor dem Hintergrund der Pandemie gestartet wurden, sind gut gewesen. Davon haben wir profitiert. Wir konnten die Schulsozialarbeit an bestimmten Stellen intensivieren. Vieles wird aber auslaufen. Eine Fortsetzung der Mittel ist nicht vorgesehen nur sind die Probleme nicht vorbei. Die Nachhaltigkeit ist in Frage zu stellen. Wir haben zum Beispiel feststellen müssen, dass die Abschlussquote der Berufsfachschulklassen I und II in den letzten zwei Jahren deutlich gesunken ist. Wir haben auch feststellen müssen, dass die Schüler mit deutlich größeren Lücken in Deutsch und Mathematik hierhin kommen als früher, obwohl sie den ersten oder zweiten Schulabschluss (Hauptschulabschluss 9 oder 10) erreicht haben. Das heißt, hier muss man intensiv nacharbeiten. Wir bieten zusätzlichen Unterricht und weitere Unterstützungen etwa bei Ausbildungsbeginn im schon erwähnten AstA-Programm an, aber bei vielen Projekten ist es eine Frage des Geldes und der Lehrkräfte. Träger der Berufskollegs ist der Kreis, nicht die Stadt Gütersloh. Fühlen Sie sich vom Land NRW als Schulform benachteiligt? Kreutzkamp: Eindeutig ja! Die Berufskollegs sind eine wichtige, aber unbekannte Schulform. Das ist traurig. Man hat den Eindruck, jeder der politisch maßgeblich ist, muss sich in das Thema erst einmal reinfinden. Das scheint bei anderen Schulformen schneller zu gehen und es spiegelt das Bild der Öffentlichkeit. Was weiß die Allgemeinheit denn schon von einem Berufskolleg? Man kennt das allgemeine Schulsystem und die Berufsschule der dualen Ausbildung, Ende. Das ganze System mit Bildungsgängen bis zur Allgemeinen Hochschulreife wird in seiner Bedeutung nicht begriffen. Ich kenne diese Zusammenarbeit zwischen Trägern, Agentur für Arbeit und Berufskollegs seit 1990. In diesen 33 Jahren hat es viele gesellschaftspolitische Entwicklungen gegeben wie etwa Flüchtlingswellen oder Grenzöffnungen. Ich bin fest davon überzeugt, dass dieses System der Berufskollegs in Kombination mit den Angeboten der Berufsberatung uns früher davor bewahrt hat, Jugendkrawalle wie an manchen Orten im Ausland erleben zu müssen. Aber das wurde und wird nicht gesehen. Dieses erfolgreiche System muss sich ständig legitimieren, weil es nicht das ’Normale’ ist. Wir stehen nicht für die berühmte Geradlinigkeit. Delegieren viele Eltern die Probleme mit ihren Kindern an Schule? Kreutzkamp: Ja, das ist durchaus mein Eindruck. Im Laufe der Jahre sind die Anforderungen an das Erziehungs- und Bildungssystem immer höher geworden, es sind die Reparaturbetriebe. Bunte-Drewell: Die Stadt Gütersloh hat zwei Streetworker eingestellt. Eine gute Idee, von der ich mir viel erhoffe. Denn natürlich müssen wir uns die Frage stellen, wenn die Jugendlichen nicht in der Schule sind, um ihren Abschluss zu machen, wo sie stattdessen sind. Vielleicht gibt es eine Chance, sie aufzusuchen. Sonst wird es bei einigen nicht mehr gelingen, sie ins System zurückzuführen. Gibt es auch positive Beispiele von vermeintlich hoffnungslosen Fällen, die Sie erlebt haben? Bunte-Drewell: Ja. Manchmal kommen Schüler zurück ans Berufskolleg, um doch noch eine Ausbildung zu machen. Dann lächeln wir uns gegenseitig an und ich denke: Okay, es hat sich gelohnt! Kreutzkamp: Es gibt Schüler, die halten ein Zeugnis in der Hand und erleben zum allerersten Mal in ihrem Leben, dass sie etwas geschafft haben. Dann sieht man Glück. Und das ist für uns Lehrer Motivation fürs Weitermachen.

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