Warum dürfen diese Halbgeschwister aus Gütersloh nicht gemeinsam aufwachsen?

Gütersloh. Die über allem schwebende Frage scheint so, als ließe sie sich leicht beantworten. Der Sachverhalt dahinter ist allerdings hoch komplex, verworren und für Außenstehende schwer zu durchblicken. Er ist Gegenstand mehrerer, teilweise abgeschlossener Gerichtsverfahren und sorgt für reichlich Ärger zwischen den Bereitschaftspflegeeltern Ulrike Janzen (62)/Klaus Schiermeyer (67) und dem Pflegekinderdienst der Stadt Gütersloh. Seit mehreren Monaten streiten sich beide Parteien mit Vehemenz um die Frage: Darf der seit Juni 2021 als Pflegekind bei Janzen/Schiermeyer lebende fünfeinhalbjährige Ben (alle Namen bis auf Janzen/Schiermeyer geändert) zukünftig mit seiner als Dauerpflegekind bei der Gütersloher Familie Müller untergebrachten Stiefschwester Alexa (3) aufwachsen? Bei aller Zuneigung und allem Einsatz für den Jungen, kann Ben aus Altersgründen nicht dauerhaft bei seinen derzeitigen Bereitschaftspflegeeltern in Bielefeld bleiben, die seit über 20 Jahren ihnen anvertrauten Kindern ein Zuhause geben. Zur Vorgeschichte: Am 20. August 2020 hatte das Jugendamt der Stadt die Halbgeschwister wegen Überforderung der leiblichen Mutter in Obhut genommen. Die ersten acht Wochen bis zum 29. Oktober verbrachten beide zusammen bei der Familie Müller, die seit zwölf Jahren als Bereitschaftspflegeeltern 60 Kindern ein Zuhause auf Zeit gegeben haben. Alexa lebt dort bis heute. Das nur für das Mädchen zuständige Jugendamt Detmold hat aus der Bereitschaftspflege mittlerweile ein Dauerpflegeverhältnis gemacht. Ben vermisst seine jüngere Halbschwester Alexa Ben lebte danach eine Zeit lang mit seiner Mutter in einer Mutter-Kind-Einrichtung, bis er zur jetzigen Bereitschaftspflegefamilie Janzen/Schiermeyer kam. Die erfahrene Familie Müller - mit denen die Stadt auf ihrer Homepage wirbt - würde nun gerne auch den Jungen dauerhaft bei sich aufnehmen. Die Halbgeschwister könnten zusammen aufwachsen. Beide haben ein liebevolles Verhältnis zueinander. Bei Besuchskontakten kann man die Verbundenheit der beiden beobachten. Ben vermisst seine Halbschwester sehr. Als Ersatz hat er sein Schildkröten-Kuscheltier nach ihr benannt. Eine, als Vormund eingesetzte, Rechtsanwältin als Vertreterin beider Kinder, eine in den Prozess eingeschaltete Verfahrensbeiständin sowie beide Bereitschaftspflegefamilien halten dies für die beste Lösung. Die zuständige Sachbearbeiterin des Pflegekinderdienstes der Stadt sperrt sich jedoch mit Vehemenz dagegen. In einem Schreiben des vermittelnde Verfahrensbeistands vom April 2022 an das Amtsgericht Detmold heißt es: "Infolge des vom Pflegekinderdienstes festgestellten Bedarfes des Kindes, wird für den Jungen ein exklusives Bindungsangebot für erforderlich erachtet, ohne Geschwisterkind." Seit geraumer Zeit läuft deshalb die Suche nach einer neuen Bereitschaftspflegefamilie. Das widerspricht dem Willen der mittlerweile in einer anderen Stadt lebenden Mutter, die sich nach der freiwilligen Abgabe des Sorgerechtes beider Kinder im Rahmen eines Erörterungsterminen eine gemeinsame Unterbringung der Stiefgeschwister in einer (Pflege-)Familie, vorzugsweise der Familie Müller, gewünscht hatte. "Dem Jugendamt geht es nicht ums Kindeswohl" Nach mehreren ergebnislosen Gesprächen mit der verantwortlichen Sachbearbeiterin der Stadt, einer an der Zuständigkeit gescheiterten Eingabe an den Jugendhilfeausschuss, der nur für Gütersloher Pflegeeltern zuständig ist, sowie einem ergebnislosen Schreiben an Bürgermeister Norbert Morkes sind Ulrike Janzen/Klaus Schiermeyer allmählich mit ihrem Latein am Ende. Ulrike Janzen: &bdquo;In 22 Jahren als Bereitschaftseltern haben wir noch nie so viel Ärger und Stress gehabt." Konkrete Vorwürfe richten sich gegen die betreffende Mitarbeiterin des Pflegekinderdienstes. Ulrike Janzen wirft ihr vor: &bdquo;Ben wird zum Spielball. Dem Jugendamt geht es schon lange nicht mehr um die Kinder und das Kindeswohl." Der Zwist zwischen beiden Seiten gipfelt in den Vorwurf: &bdquo;Die Sachbearbeiterin stößt Drohungen aus und niemand stoppt sie. Auch der Bürgermeister nicht." Das Familiengericht gibt Bens Pflegefamilie recht Das Vorgehen der Stadt verstoße nach Einschätzung des Bielefelder Ehepaares gegen das Kinder- und Jugendhilfe betreffende achte Sozialgesetzbuch (SGB III). In einem Schreiben vom 23. August 2022 an die Stadt beschwert sich das Ehepaar : &bdquo;Im SGB VIII ist festgelegt, dass Kinder anzuhören sind und ihrem Wunsch Rechnung zu tragen ist. Ben äußert ganz klar, dass er mit seiner Schwester zusammen leben möchte. auch Ihnen gegenüber. Dies wird von Ihrer Seite einfach ignoriert.“ Das Familiengericht Detmold teilt diese Auffassung in einem Beschluss vom 30. Mai 2022. Darin wird auf eine zuvor erfolgte Stellungnahme des Verfahrensbeistands verwiesen, wonach Ben im Planhilfeverfahren nicht angemessen beteiligt und sein Wunsch- und Wahlrecht ignoriert wurde. Die eingesetzte neutrale Gutachterin hatte in einem Schreiben vom 12. April festgestellt: &bdquo;Auch sein spontaner Kommentar, dass er natürlich bei Familie Müller wohnen möchte, lässt erkennen, dass er sich ein Zuhause bei ihm vertrauten Menschen wünscht, was aus kindlicher Perspektive absolut nachvollziehbar ist. Jede existenzielle Veränderung geht für ein Kind mit Ängsten, Verunsicherung und Belastungen einher, die es zu minimieren gilt. Das vorbenannte subjektive Interesse des fünfjährigen Jungen ist eindeutig." Trotz alledem weicht die Stadt keinen Zentimeter von ihrer Entscheidung ab. Matthes: "Es gibt Gründe, die dagegen sprechen" Nach Rücksprache mit dem Pflegekinderdienst bekräftigt Sozialdezernent Henning Matthes: &bdquo;Die Kolleginnen und Kollegen entscheiden alles im Team. Das Wohl des Kindes steht dabei über allem." Ohne ins Detail gehen zu dürfen, unterstreicht der Beigeordnete: &bdquo;Es gibt Gründe, die dagegen sprechen, dass die beiden Kinder zusammen aufwachsen." Es seien bei mehreren Gelegenheiten &bdquo;fachliche Argumente ausgetauscht“ worden". Jedem Einzelfall läge eine &bdquo;gründliche Abwägung aus fachlicher Sicht“ zu Grunde. Das Jugendamt nähme die Pflegeverhältnisse sehr ernst, es würden &bdquo;keine leichtfertigen Entscheidungen getroffen“. Das letztlich Entscheidungsrecht liege &bdquo;immer beim Jugendamt“, so Henning Matthes. Trotz aller gegenteiligen Beteuerungen geht das Gezerre um seine Zukunft an dem Fünfjährigen nicht spurlos vorbei. Nach dem ihm die städtische Sachbearbeiterin bei einem Besuch am 18. August die Entscheidung mitgeteilt hat, für ihn eine andere Pflegefamilie als die erhoffte zu finden, reagierte Ben mit Verhaltensauffälligkeiten. In ihrem Schreiben an Norbert Morkes beschreiben Janzen/Schiermeyer das Verhalten des Kindes in den Tagen danach wie folgt: &bdquo;Er hat viel geweint und zeigt jetzt ein sehr unkontrolliertes Verhalten, indem er wieder angefangen hat, laute Geräusche abzugeben, viel künstlich lacht und versucht, sich häufig in die Lage des Bestimmenden zu bringen“. Der Vormund ist bereit, andere Familie zu akzeptieren Angesichts der Haltung des Jugendamtes scheint auch der Vormund zu kapitulieren. Obwohl er zur Aufnahme von Ben in der Familie Müller eine Verpflichtungsklage beim Verwaltungsgericht in Minden eingereicht hat (das Urteil wird nicht vor Ende 2023 erwartet), ist mittlerweile auch eine Unterbringung in einer anderen Familie, als in der von Janzen/Schiermeyer favorisierten denkbar. In besagtem Schreiben an den Bürgermeister skizzieren die Bereitschaftspflegeeltern die derzeitige Lage wie folgt: &bdquo;Aufgrund des enormen Drucks des Pflegekinderdienstes und der zu befürchtenden lang andauernden Gerichtsverfahren, ist der Vormund nun bereit, einem Dauerpflegeverhältnis in einer anderen Familie zuzustimmen. Dem Wunsch von Ben entspricht dies nicht." Für die Zukunft ihres Mündels wünschen sich Ulrike Janzen und Klaus Schiermeyer nur eines: &bdquo;Wir möchten, dass es beiden Kindern gut geht und die Halbgeschwister zusammen aufwachsen können." Kommt es hart auf hat, fällt die endgültige Entscheidung über des Jungen erst per Gerichtsbeschluss Ende 2023.

Meistgelesen