Gütersloh bekommt die erste Bahn - und plötzlich verändert sich alles

Gütersloh. Der Tag, an dem die Eisenbahn nach Gütersloh kam, muss ein Festtag gewesen sein. Man stellt ihn sich romantisch vor. Girlanden werden geweht, Musikkapellen aufgespielt haben. Gewiss trugen alle Menschen Sonntagsstaat. Als die Zugmaschine um 15.30 Uhr fauchend und zischend einrollte, dahinter die Wagen mit den Fahrgästen, werden die Gütersloher gestaunt und gejubelt haben, vielleicht warf der eine oder andere seinen Hut. Und was steht über diesen Tag in der Stadtchronik? Nur ein winziger, dürrer Eintrag von Bürgermeister Rüter: &bdquo;1847 October 15. fand die Eröffnung der Cöln-Mindener Eisenbahn respect deren erster Benutzung bis zu dem Endziel Minden statt.“ Nüchterner geht es nicht. Von Eisenbahn-Romantik keine Spur. Der Planzug 1 war angekommen und wieder abgefahren, fertig. Gäbe es nicht eine Zeichnung und den Bericht eines Reporters aus Köln (dazu später), man könnte diesen Tag für einen gewöhnlichen halten. Das war er natürlich mitnichten. Ohne den Bahnanschluss wäre Gütersloh heute keine Großstadt, ohne ihn hätten sich weder Miele noch andere Firmen hier niedergelassen, ohne ihn wäre vermutlich Rietberg die Metropole des Kreises. Ohne die Bahn wäre Gütersloh heute keine Großstadt Wie lange hatte Gütersloh um diesen Bahnanschluss gerungen! Schon 1830, fünf Jahre bevor in Deutschland der erste Zug von Nürnberg nach Fürth schnaufte, war in der Stadtchronik von der Idee zu lesen, dass eine solche Eisenbahn von Vorteil sei. Sicher, das für Gütersloh so bedeutende Fuhrwesen würde leiden; auch Schmiede, Stellmacher, Sattler und Seiler würden Kunden verlieren, desgleichen die Gasthöfe – aber insgesamt dürfe man sich den Vorzügen dieses neuen Verkehrsweges nicht verschließen, man denke nur an die vielen Zentner Waren, die eine Maschine auf stählernen Gleisen besser zu transportieren vermöge. Doch es gab einen potenten Konkurrenten. Der Gutsbesitzer Tenge in Rietberg drängte darauf, dass die Strecke durch die Grafschaft führte, und er hatte der Cöln-Mindener-Eisenbahngesellschaft etwas anzubieten: kostenlosen Grund und Boden. Jahre zog sich das Tauziehen hin. Die Besorgnis in Gütersloh stieg derart, dass der Magistrat ein Bündnis schmiedete: Gemeinsam mit Hamm, Oelde und Rheda legte die Stadt ein Nivellierungsprofil vor, wonach bei einer über Gütersloh geführten Bahn kaum Geländeschwierigkeiten zu überwinden seien; außerdem ließ man wissen, dass allein an der Station Gütersloh 16.000 Taler mehr an Frachteinnahmen zu erwarten sei als bei einer Route über Rietberg. Zu diesen Sachargumenten kam ein weiteres: Der Magistrat legte der Regierung in Minden eine Offerte vor, in der sie um Genehmigung bat, der Eisenbahngesellschaft 7.500 Taler zur Verfügung stellen zu dürfen, die Hälfte von Bürgern gespendet. Die Argumente fruchteten. Am 24. März 1845 schickte der preußische Finanzminister von Flottwell folgenden Bescheid: Des Königs Majestät entschied durch allerhöchste Ordre &bdquo;Im Verfolg meines Erlasses vom 19. April v.J. eröffne ich der Direktion hiermit, daß des Königs Majestät nunmehr durch allerhöchste Ordre vom 9.d.M. über die Richtung der Cöln-Mindener Eisenbahn entschieden haben. In Anerkenntnis der richtigen Rücksichten für eine möglichst direkte und wohlfeilere Hauptverbindung der westlichen Provinzen mit den östlichen haben Allerhöchst dieselben die um 2 1/4 Meilen kürzere und 414.000 rth. wohlfeilere Linie von Hamm über Ahlen, Oelde und Rheda nach Bielefeld den Vorzug gegeben und demgemäß bestimmt, daß solche angenommen werde.“ Ein Dreivierteljahr später, Januar 1846, begannen die Erdarbeiten. Zeitweise packten bis zu 500 Arbeiter mit an. Doch die Umstände waren prekär; es gab Demonstrationen, Streiks, meistens wegen mieser Tagelöhne. Der Ärger kochte derart hoch, dass der Landrat den Gütersloher Bürgermeister einbestellte: Er möge die Angelegenheit klären und gegebenenfalls Nachzahlungen veranlassen. Der Zeitplan durfte nicht wackeln: Die Teilstrecke Hamm-Minden war der vierte und letzte Abschnitt der Cöln-Mindener Eisenbahn. Da gleichzeitig von Osten die Königliche Hannoversche Eisenbahn ab Minden ihren Betrieb aufnahm, sollte der Lückenschluss ein historischer sein: die Verbindung der preußischen Hauptstadt Berlin mit seinen Provinzen Rheinland und Westfalen. "Westfalen mit eisernen Banden an seine Bruderstämme gekettet" Die Bedeutung des Ereignisses schildert die &bdquo;Kölner Zeitung“ am 16. Oktober 1847, einen Tag nach der Jungfernfahrt: &bdquo;Diese Zeilen sind vermutlich der erste Bericht, der ihnen aus der entlegenen Ecke des Westfalenlandes auf dem Schienenwege zugeht. Es war ein Festtag gestern für diese Provinz, wie sie ihn seit Dezenien nicht gefeiert hat. Nicht bloß auf der neu eröffneten Bahnstrecke, schon von Deutz an begannen die Zeichen eines festlichen Tages: Laubgewinde und wehende Flaggen, Böllerschüsse und ein großer Zulauf von Zuschauern, der auf der ganzen Strecke von Hamm bis Minden wahrhaft ungeheuer war. Eine solche Freude lag auf den Gesichtern, daß man merkte, sie war nicht bloß der Neugier entnommen, sondern es lag eine höhere Idee zugrunde, die Idee, daß hier etwas Historisches vorgehe, daß Westfalen aus seiner Abgeschiedenheit herausgerissen und mit eisernen Banden an seine Bruderstämme gekettet werde.“ Der Betrieb lief unter erstaunlichen Bedingungen. Ohne Strom, ohne Telefon und ohne Morse-Apparat war der Zugverkehr allein über optische Signale zu regeln. Alle 624 Meter war ein Bahnwärter postiert. Seine Aufgabe war es, die Zug-Signale so zu stellen, dass der nächste Wärter sie sah. War die Sicht zu schlecht, musste der Wärter dem Zug vorauslaufen, um die Signale zuzurufen. Ein &bdquo;Stationsgebäude“ – so hießen die Bahnhöfe früher – existierte in Gütersloh zur Jungfernfahrt nicht, auch in Rheda, Bielefeld und Herford nicht. Für täglich zwei Reisezüge und einen Güterzug sei der Aufwand zu groß, fand die Bahn. Die Bauten folgten erst zwei, drei Jahre später. Der Fürstenfamilie aus Rheda richtete man einen eigenen Wartesaal ein Die Gütersloher nahmen das neue Gefährt an. 1848, im ersten vollständigen Betriebsjahr, stiegen 28.833 Bahnreisende ein – eine Zahl, die die Eisenbahngesellschaft veranlasste, ein Jahr darauf einen zweiten Personenzug aufs Gleis zu setzen. Die Fahrt von Cöln-Deutz nach Gütersloh dauerte laut Fahrplan sieben Stunden und neun Minuten. Die Bürger aus Rheda zahlten im Schnitt doppelt so viel für ihre Fahrkarte – was wohl daran lag, dass vor allem Mitglieder der Fürstenfamilie die Bahn nutzten und selbstverständlich erster Klasse reisten. Im Bahnhof Rheda richtete man ihnen einen eigenen Wartesaal ein, das &bdquo;Fürstenzimmer“. Es bestand noch nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Eisenbahn veränderte das Leben in Gütersloh fundamental. Volksschulrektor Ernst Buschmann beschreibt es in seiner &bdquo;Buschmann-Chronik“.Erstens, die materielle Wohlfahrt: Fuhrwesen und das damit verbundene Handwerk seien nahezu verschwunden, Gasthöfe stünden leer. &bdquo;Unser Kaufmannsstand dagegen hat dadurch bedeutend gewonnen, seine mit so großer Leichtigkeit, Wohlfeilheit, Schnelligkeit und Sicherheit mit der Eisenbahn auszuführenden Versendungen haben sich in enorme Dimensionen gesteigert () Auch finden viele Leute aus der Stadt als Bahnwärter, Nachtwächter, Weichensteller, Maschinenputzer ihr auskömmliches Brot () Ebenso hat der industrielle Geist, der selbst die kleinen Leute von Gütersloh auszeichnet, z.B. unsere Viehhändler, Pflanzen- und Gemüsehändler, die Borsten- und Häuteverkäufer angetrieben, ihre Geschäftsreisen bis ins Bergische, nach Düsseldorf und Köln auszudehnen.“ Statt sonntags in die Kirche gingen die Gütersloher zum Bahnhof - aus reiner Schaulust Zweitens, die sittliche Wohlfahrt: &bdquo;Es ist nicht zu verkennen, daß seit Anlage der Eisenbahn sich Elemente und die alte Bevölkerung gemischt haben, welche, meistens vom Rheinlande herübergekommen, dem schlichten, einfachen und kirchlichen Sinn der Gütersloher widerstreben. Zu hunderten eilen auch des sonntags, auch während des Gottesdienstes, die Leute aus Gütersloh statt in die Kirche – nach dem Bahnhofe, um ihre Schaulust an dem bunten Gewühl daselbst zu befriedigen, und empfangen dort Eindrücke, welche der stillen inneren Einkehr diametral entgegenstehen. () Doch ist die Eisenbahn nicht auch schon jetzt dem Verkehr in den höchsten Gütern der Menschheit geöffnet? Wie schnell, mit wie geringen Kosten fliegt jetzt auf der Eisenbahn alles hin nach Gütersloh, zu der Stadt, die wohl auf dürrem Sande, in geistlicher Beziehung doch auf dem Berge liegt! Und wie kommen und gehen die geistigen segensreichen Strömungen von und nach Gütersloh, getragen von der Eisenbahn, in Schriften, Briefen und berühmten Männern, wechselseitig geben und empfangend. So möchte es fast scheinen, daß unsere Stadt, ungeachtet des vorhin aufgerollten so traurigen Bildes, noch eine große Zukunft beschieden sei. Wird Gütersloh seine Aufgabe verstehen und lösen?“

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