Briefwähler dürften vielleicht längste Wahlnacht im Kreis Gütersloh bescheren

Stellen Sie sich vor, das Telefon klingelt und jemand Fremdes bittet Sie, an einer Wahlumfrage teilzunehmen. Machen Sie mit? Die Netten unter uns legen nicht einfach auf, sondern sagen wenigstens so etwas wie &bdquo;keine Zeit, ich muss mein Kind abholen." Kein leichter Job für die Wahlforscher, die Teilnahmebereitschaft in Deutschland sinkt. Für die USA ist das recht gut erforscht, eines der bekanntesten Umfrageinstitute, Gallup, konnte 1997 noch 28 Prozent der zufällig ausgewählten Leute befragen, 2017 nur noch 7 Prozent. Alle anderen waren nicht zu erreichen oder hatten keine Lust. Viele Wahlumfragen funktionieren noch über das Festnetztelefon, ein Gerät, das viele junge Wahlberechtigte erst einmal googeln müssen. Die Wahlforscher erreichen also in der Mehrzahl die ältere Bevölkerung. Und diejenigen, die Zeit und Lust auf ein Telefongespräch haben, sind in der Regel noch ein bisschen älter. Wahlforscher können kaum anders agieren, denn der Vorteil von Festnetztelefonen ist, dass man sie durch die Vorwahl regional verorten kann. Bei Mobiltelefonen geht das nicht. Und Onlineumfragen bieten auch nicht die gewünschte Seriosität. Wie sicher sind also die Prognosen für die Bundestagswahl, die wir mit Gespanntheit in diesen Tagen verfolgen? Aus dem Wahlamt heißt es, man würde vor 21 Uhr am Wahlsonntag keiner Hochrechnung Glauben schenken. Konnte man bislang zuverlässige Umfragen vor den Wahllokalen machen, bleiben dieses mal 50 Prozent im Verborgenen. Jede zweite Wählerin, jeder zweite Wähler bevorzugt die Stimmabgabe per Post. Briefwähler lassen sich weder abfangen noch anrufen – kein Wahlforscher weiß, wer sein Kreuz per Post geschickt hat. Für die Bevölkerung im Kreis ist die Hochrechnung nach Schließung der Wahllokale um 18 Uhr also eine mehr als wackelige Angelegenheit. Und auch die Parteien sollten sich nicht zu früh freuen. Aufkommen an Briefwählern stellt die Verantwortlichen vor neue Herausforderungen Man rechnet also mit einer langen Wahlnacht für den Kreis Gütersloh. Vielleicht der längsten, die wir bislang hatten. Das gigantische Aufkommen an Briefwählern stellt die Verantwortlichen vor neue Herausforderungen. Eine Heerschar von zusätzlichen Wahlhelfern ist am Sonntag damit beschäftigt, die Stimmabgabe per Briefwahl auszuwerten. Das Städtische Gymnasium wird dazu nahezu komplett in Anspruch genommen. Alles muss sorgfältig dokumentiert werden. Das kostet Zeit. Und weil mehrere hundert Personen moniert haben, die angeforderten Briefwahlunterlagen nicht erhalten zu haben, haben sie ihre Unterlagen noch einmal zugeschickt bekommen. Damit hier am Ende keine doppelte Stimmabgabe oder gar eine Form von Wahlbetrug stattfindet, muss am Sonntagabend alles sorgfältig abgeglichen werden. Und schon bei der Kommunalwahl gab es das Phänomen, dass deutlich mehr Briefwahlunterlagen angefordert als abgegeben wurden. Kosten, die wie selbstverständlich der Allgemeinheit zugemutet werden. Machen wir es den Wählerinnen und Wählern mit derlei Briefwahlangeboten zu einfach? &bdquo;Für mich ist orts- und zeitunabhängig, per Briefwahl wählen, modern und schon lange normal", sagt Sebastian Stölting, Direktkandidat für Bündnis 90/Grüne. &bdquo;Spätestens dieses Jahr, sehe ich mich in breiter Gesellschaft und nah an der Lebensrealität der Bürger:innen." Deutlich angestaubt – für Jungwähler vielleicht sogar piefig – wirkt dagegen der sonntägliche Spaziergang zum Wahllokal. Gehen Sie bitte wählen, lassen Sie Ihr Stimmrecht nicht verfallen! Der Coronaschutzgedanke ist bei all dem längst in den Hintergrund gerückt. Wir werden uns wohl darauf einstellen müssen, dass sich unsere Wahlsonntage in Zukunft anders darstellen. Die Prognosen werden unzuverlässiger, die Wahlergebnisse womöglich gar nicht mehr am Wahlsonntag geliefert. Unabhängig vom Wandel des Prozedere bleibt eine Aufforderung immer dieselbe: Gehen Sie bitte wählen, lassen Sie Ihr Stimmrecht nicht verfallen! Während die Wahlbeteiligung in der Altersklasse der 18- bis 30-Jährigen nur bei 60 Prozent liegt, gehen 80 Prozent der 60- bis 80-Jährigen zur Wahl. Die Festnetztelefonierer und Sonntagsspaziergänger nehmen die Sachen scheinbar ernster und kommen deshalb hoffentlich nicht aus der Mode.

Meistgelesen