200 Patienten auf der Warteliste: In Hausarztpraxen droht der Impf-Kollaps

Gütersloh. Tut. Tut. Tut. Dazwischen je 480 Millisekunden Pause. Besetzt! Schon wer dieser Tage seinen Hausarzt telefonisch erreicht, der darf sich glücklich schätzen. Denn: &bdquo;Bei uns ist die Hölle los." Eine Medizinische Fachangestellte aus Gütersloh bringt auf den Punkt, was sich in dortigen Hausarztpraxen momentan abspielt. Volle Wartezimmer, überlastete Telefonanlagen, arbeiten am Limit, aggressive Stimmung – und ab dem 7. Juni droht der Impf-Kollaps. Ein Stimmungsbild aus Praxen in Gütersloh. Vier Tage vor dem Auftaktspiel der Fußball-Europameisterschaft in Rom wird es auch beim Impfen in NRW und im Kreis Gütersloh extrem sportlich. Tempo aufnehmen, lautet die Devise. Die bundesweite Aufhebung der Priorisierung dürfte aber auch zum Anpfiff für regelrechte Sturmläufe auf Arztpraxen werden, die bereits mit der Aufhebung für den Impfstoff Astrazeneca erfolgten. Nach den Plänen von Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) können theoretisch alle Menschen ab 16 Jahren einen Termin für eine Corona-Schutzimpfung bekommen. Wie sich das Ganze in der Praxis gestalten lässt, mag sich mancher Mediziner schon jetzt nicht vor Augen führen. Nicht genügend Impfstoff, keine Liefersicherheit &bdquo;Wir sind doch schon mittendrin im Turnier und spielen quasi seit Monaten eine Art Dauer-EM", nimmt Nathalie Ghosh-Heiringhoff den Ball auf und spricht von einer generell gut ein Jahr andauernden medizinischen Marathon-Situation mit vielen Facetten und politischen Fehlschüssen. Dass nun die Impfreihenfolge aufgehoben würde, sei grundsätzlich ja eine schöne Sache, sagt die Internistin der Gemeinschaftspraxis für Innere Medizin und Allgemeinmedizin (GIA) an der Brunnenstraße. Doch die 44-Jährige sieht vor allem ein Problem darin dass nicht ausreichend Impfstoff für alle zur Verfügung steht und die Liefersicherheit nicht gewährleistet ist. Dadurch müssten sich die Patienten eben gedulden. Vergütung liegt bei 20,61 Euro brutto pro Patient &bdquo;Der Unmut steigt, die Emotionen kochen hoch. Viele fragen sich sowieso, weshalb der eine geimpft ist und der andere eben nicht", weiß Ghosh-Heiringhoff. Durch das Chaos würde kaum noch jemand durchblicken. Auch das Personal, in der GIA leisten zwei Vollzeitkräfte durch Beratung und Bearbeitung im Impf-Einsatz wöchentlich bis zu acht Stunden Mehrarbeit, arbeite unter Dauerbeschuss. &bdquo;Das Telefon steht nicht mehr still. Die Stimmung wird zunehmend aggressiver." Ganz zu schweigen vom hohen organisatorischen Aufwand, der in den Praxen anfällt, die das Impfen ja obendrein neben der Regelversorgung nur im &bdquo;Nebengeschäft" bewältigen. Als Vergütung darf eine Praxis für eine Impfleistung 20,61 Euro brutto pro Patient berechnen, damit müssen alle Kosten gedeckt werden. Lesen Sie auch: Trotz Astrazeneca-Freigabe impfen Gütersloher Hausärzte nicht jeden Ein Arzt im Impfzentrum erhält dagegen 150 Euro in der Stunde. Darauf angesprochen sagt Natalie Ghosh-Heiringhoff: &bdquo;Man soll es nicht monetär aufwiegen, aber eine gewisse Balance sollte schon vorhanden sein." Für die Medizinerin ist auch klar: &bdquo;Das Kollektiv der impfwilligen Ärzte wird immer kleiner." !function(){"use strict";window.addEventListener("message",(function(a){if(void 0!==a.data["datawrapper-height"])for(var e in a.data["datawrapper-height"]){var t=document.getElementById("datawrapper-chart-"+e)||document.querySelector("iframe[src*='"+e+"']");t&&(t.style.height=a.data["datawrapper-height"][e]+"px")}}))}(); "Es gibt Kollegen, die haben die Nase voll und machen nicht mehr mit" Eine ähnliche Wahrnehmung hat auch Gökhan Adar (36), der sich gerade als Nachfolger in der Praxis von Frieder Großkraumbach (80) in der Gütersloher Innenstadt einarbeitet. &bdquo;Es gibt viele Kollegen, die haben die Nase voll und machen nicht mehr mit", sagt er. Seit März habe sich in der Praxis an der Berliner Straße die Situation umgekehrt: Es dreht sich fast alles nur noch ums Impfen. &bdquo;Alle sprechen davon. Egal, ob der 18- oder der 80-Jährige." Sehr zum Leidwesen des &bdquo;normalen" Patienten. Manchmal wirke es schon, als würde der Regelbetrieb derzeit förmlich in den Hintergrund gedrängt werden. &bdquo;Aber ich bin ein Arzt für alle und nicht für Impflinge", stellt Gökhan Adar klar. Dass der Staat niedergelassene Ärzte so einfach in die Pflicht nehme würden, hält der Mediziner für kritikwürdig: &bdquo;Die Einstellung ’Das müssen die Hausärzte sowieso machen’ finde ich nicht richtig." Dieser Tag ist beim Thema viel Frust im Spiel – und insgesamt schon jetzt wenig Spielraum. Das verdeutlicht auch die Bandansage einer Gütersloher Praxis: &bdquo;Liebe Patienten, aktuell können wir ihnen keine Impftermin anbieten. Für alle anderen Angelegenheiten bleiben sie in der Leitung..." KVWL stellt noch keine "Abmeldung" fest Die Feststellung, dass sich Praxen mittlerweile gefrustet und verärgert wieder vom Impfsystem abmelden würden, wie der Hausärzteverband Nordrhein registriert, kann Vanessa Pudlo (30) von der Kassenärztlichen Vereinigung für den Bereich Westfalen-Lippe zwar noch nicht bestätigen. Aber auch die KVWL-Sprecherin empfindet &bdquo;die Situation und Stimmung als sehr angespannt." Der Erfolg der nächsten Wochen stehe und falle mit der Liefermenge an Impfstoff. &bdquo;Viele Ärzte spiegeln uns: ’Wir können mehr.’ Das funktioniert nur, wenn ausreichend Impfstoff vorhanden ist. Man verwaltet aber momentan immer noch den Mangel." Obwohl aktuell nicht genügend Mengen an Vakzin zur Verfügung steht, ist die Aufhebung der Priorisierung aus Sicht von Vanessa Pudlo gleichwohl &bdquo;an sich der richtige Schritt, denn so können Praxen flexibel reagieren." Warteliste mit 150 bis 200 Patienten Auch in den Räumlichkeiten von Allgemeinmediziner Rami Ibrahim an der Sundernstraße 127 in Gütersloh ist derzeit viel los. &bdquo;Wir haben mit den Impfungen zwar Probleme, aber alles in einem gewissen Rahmen", sagt der 49-Jährige. Vergangene Woche hat er 18 Patienten gegen das Coronavirus geimpft. Klingt recht wenig. &bdquo;Ist auch nicht viel", sagt Ibrahim. Diese Woche hätte er 30 Dosen zur Verfügung. &bdquo;Aber letztlich bestelle ich momentan noch mehr Impfstoff als ich geliefert bekomme." Deshalb führt er eine Warteliste, auf der gegenwärtig zwischen 150 und 200 Namen stehen. &bdquo;Einige Patienten sind sauer darüber, dass sie noch warten müssen", sagt Ibrahim, &bdquo;gerade jetzt, wo vielen schon den Sommerurlaub vor Augen haben. Aber die meisten haben Verständnis." Ärztesprecher Coesfeld wünscht sich vernünftige Regelung Derartiges Einfühlungsvermögen fehlt Wolfram Coesfeld (55), Vorsitzender des Ärztevereins im Kreis Gütersloh, beim Gedanken an drängelnde Impfwillige, &bdquo;die jetzt Stress machen, weil der Urlaub vor der Tür steht. Das ist doch total unsolidarisch." Auch er spricht von Eigentoren der Politik (&bdquo;Das Hin und Her um Astrazeneca war eins"), davon dass das nächste nun auf Kosten der Hausarztpraxen gehe und das man trotz Aufhebung der Priorisierung eigentlich &bdquo;eine vernünftige Direktive" haben müsse, eventuell eine Regelung über Jahrgänge. Wie auch immer. Aktuell könne man ja fast schon froh sein, so Coesfeld, dass Betriebsärzte in Großfirmen ab dem 7. Juni ebenfalls impfen dürfen. &bdquo;Das ist ein wertvolles Faustpfand."

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