Bürgermeister-Kandidat der Linken: "Gütersloh hat ein großes soziales Gefälle“

Herr Reese, Sie konnten sich den Ort des Interviews aussuchen. Warum der heimische Garten? MANFRED REESE: Das ist ein Ort, an dem ich mich wohl fühle. Wir haben auch lange daran gearbeitet. Haben Sie das Haus selbst gebaut? REESE: Selbst geplant und selbst gebaut. Ich bin ja Architekt von Haus aus, da geht das. Wir haben das Grundstück von der Stadt im Zuge der Baulandentwicklung bekommen, und dann haben wir hier losgelegt, 1994 war das. Die meisten Steine habe ich selbst in der Hand gehabt und gemauert. Ist der Garten auch von Ihnen? REESE: Nein, das ist das Terrain meiner Frau. Ich sitze zwar sehr gerne darin und genieße ihn, aber die Arbeit damit, muss ich ehrlicherweise sagen, überlasse ich meiner Frau. Sie kennt sich aus. Ihre Brüder waren im Gartenbau tätig, und wenn wir durch den Wald gehen, kennt sie jede Pflanze. Bald gehen Sie in Pension. Sollten Sie aber Bürgermeister werden, haben Sie wenig Zeit, den Garten zu genießen. REESE: Gut, die Zeit für das Amt würde ich mir nehmen. Was läuft verkehrt im Bürgermeisteramt? REESE: Es gibt so einige Dinge, die man besser machen könnte. Die Geschichte mit der 3. Gesamtschule zum Beispiel ist suboptimal gelaufen. Nun man kann darüber streiten, wer die Verantwortung dafür trägt, aber im Zweifel ist es immer der Bürgermeister. Was noch? REESE: Flugplatz. Von vornherein sagte Schulz, vermutlich mit Rückendeckung der CDU, wir machen da ein Gewerbegebiet. Wir Linken stellen uns da aber was anderes vor. Eher ein Mischgebiet. Eines, wo man leben, arbeiten, seine Freizeit verbringen kann. Als die Briten damals ihren Abzug ankündigten, gab es Bürgerworkshops, da kamen viele interessante Vorschläge, aber kaum jemand sagte, er wolle dort ein Gewerbegebiet mit Schwerindustrie. Doch genau das passiert jetzt. Mit der Lage auf dem Wohnungsmarkt scheinen Sie ebenfalls unzufrieden zu sein. REESE: Und wie! Wie lange laufen schon die Gespräche mit dem Bund? Und mit welch bescheidenen Ergebnis? Wir hätten längst weiter sein können – einfach die Wohnungen so vermieten, wie sie sind, und unterdessen die Gespräche weiterführen. Dann wären jetzt viele Menschen glücklich. Mit der Forderung nach mehr sozialem Wohnraum waren die Linken die ersten in Gütersloh. REESE: Schon 2014 haben wir danach gerufen. Damals hat die Stadt abgewiegelt. Als es dann die Untersuchungen gab, wie viel hier tatsächlich fehlt, ist sogar die CDU umgeschwenkt. Wenn man sich die neuen Siedlungen anguckt, in Pavenstädt zum Beispiel, ist das doch alles für Eigenheimbesitzer. Im sozialen Segment aber regelt der Markt das nicht alleine, da muss die Stadt tätig werden. Was ist verkehrt daran, Häuser für Eigenheimbesitzer zu bauen? Die machen doch anschließend ihre Mietwohnungen frei. REESE: Das ist diese Spirale, von der Sie reden. Aber es kann nicht immer die Lösung sein, nur hochpreisigen Wohnraum zu schaffen und dann zu warten, bis das durchsickert. Wir sehen ja, dass das zu lange dauert und nicht wirklich befriedigend funktioniert. Ich sehe nicht ein, warum wir nicht direkt eine Offensive für preiswerten Mietraum starten. Nun gründet sich ja bald eine städtische Immobilientochter. REESE: Ja, und was schlägt der Bürgermeister vor? Dass sie sich erst mal um die Mansergh-Kaserne kümmert. Warum? Wieso kann diese neue Gesellschaft nicht vorrangig preiswerten Wohnraum organisieren? Zum Beispiel die BImA-Wohnungen? So eine Gesellschaft muss ja auch wachsen, mit ihrem Personal und Immobilienbestand. Wenn dann noch Kapazität ist, meinetwegen Mansergh. Bis das an der Kaserne losgeht, dauert es sowieso noch Jahre. Warum trauen Sie sich den Posten des Bürgermeisters zu? REESE: Ich bin keiner, der ständig seine Meinung herausposaunt, sondern einer, der den Menschen zuhören kann. Das finde ich wichtig. Außerdem bin ich seit 40 Jahren in der Verwaltung tätig. Von allen Kandidaten habe ich die meiste Verwaltungserfahrung. Verschafft Corona den Amtsinhabern einen Vorteil? REESE: Und ob! Die können sich jetzt schön als Macher präsentieren. Und ich, wie soll ich mich bekannt machen? Mich mit Maske und Abstandsregeln auf den Berliner Platz stellen? Schwierig. Für uns Gegenkandidaten ist es nicht so leicht, uns zu präsentieren und mit den Menschen in Kontakt zu kommen. Was wäre das erste, worum Sie sich als Bürgermeister kümmern würden? REESE: Das Thema Wohnungen hatten wir ja schon. Ich finde, wir müssen auch mehr gegen die Armut tun. Die Leute meinen, Gütersloh ist relativ reich, das ist es auch, aber dennoch gibt es hier viel Armut. Die müssen wir bekämpfen. Die Altersarmut von Leuten mit minimaler Rente, die Kinderarmut. Da gibt es viele Dinge, wo auch eine Kommune tätig werden kann. Beispiel? REESE: Digitalisierung in Schulen. Wenn ich kein Geld habe, kann ich meinem Kind keinen Laptop kaufen. Die Folge, nicht nur während Corona: Das Kind bleibt auf der Strecke. Hier muss die Kommune einspringen. Soziale Gerechtigkeit, das Kernthema der Linken. REESE: Ja klar. Wir haben in Gütersloh ein großes soziales Gefälle. Wir haben viele reiche Bürger, aber auch viele arme. Einen Ausgleich zu schaffen, wäre nicht schlecht. Hat Ihre politische Laufbahn wegen dem sozialen Gefälle mit dem Eintritt in die WASG (Wahlalternative Arbeit & Soziale Gerechtigkeit, fusionierte 2007 mit der PDS zur Linken) begonnen? REESE: Kann man so sagen. 2005 war das, glaube ich. Damals war keine andere Partei mehr wählbar. Die SPD mit Clement und Steinbrück nicht, die CDU sowieso nicht. Ich hatte keine Lust, ständig mit der geballten Faust in der Tasche rumzurennen, also bin ich aktiv geworden. Die Grünen haben Sie jetzt aber außen vor gelassen. REESE: Die habe ich sogar mal gewählt, das ist wahr. Ich habe durchaus Sympathie für die Grünen und Umweltschutz, behaupte aber, das findet sich auch im Programm der Linken wieder, wenn man mal genau hinsieht. Wir müssen den Planeten besser hinterlassen, als wir ihn vorgefunden haben. Hört sich so an, als könnten Sie denen beitreten. REESE: Nein, bestimmt nicht. Die Grünen sind mir zu bürgerlich geworden. Aus den Hausbesetzern von damals sind die Hausbesitzer von heute geworden. Zur Corona-Krise: Sind Sie zufrieden, wie die Stadtverwaltung damit umgeht? REESE: Sie macht das ordentlich, das heißt, sie tut, was zu tun ist. Viel Spielraum ist da nicht, das sehe ich auch in Bielefeld. Der Kreis und sein Gesundheitsamt haben da ganz andere Möglichkeiten, etwas richtig oder falsch zu machen. Nach Ihrer Haltung zu Tönnies und Tierschutz muss ich wohl gar nicht fragen. REESE: Wir zählen zu den ersten, die auf die Missstände hingewiesen haben. Schon vor Jahren. Warum zum Beispiel müssen wir hier Schweine unter solchen Bedingungen mästen, nur damit Tönnies sie nach China liefern kann? Was ist das für eine Logik? Ich sage immer, wenn das Schwein nicht essbar wäre, gäbe es kein Schwein. Aber nun ist es da, und wir sollten dafür sorgen, dass es glücklich leben kann. Sie wollen zurück zur Weidenhaltung. REESE: Und was ist daran schlimm? Morgens die Tiere auf die Weide schicken und abends wieder reinholen, sieht für mich artgerechter aus als das, was heute passiert. Ziehen Sie selber als Demonstrant vors Tönnies-Werkstor? REESE: Nein, eher nicht. Wegen meiner Arbeitszeiten, und ich bin auch nicht so der Demonstrantentyp. Meine Bühne ist eher die politische. Aber ich finde es gut, dass meine Parteifreunde das machen. Im Stadtrat ergreifen Sie gerne mal das Wort, wenn es um das Thema Schulausbau geht. REESE: Da hat unsere Verwaltung gepennt. Wenn ich weiß, dass Kinder mit sechs Jahren eingeschult werden, dann gucke ich mir die Geburtenstatistiken an und habe eine Idee davon, was wir in sechs Jahren an Schulraum brauchen. Die Verwaltung scheint dazu aber nicht in der Lage. Ich finde es seltsam, dass wir nun ein Riesen-Ausbauprogramm vor der Brust haben und die Stadt so tut, als käme das überraschend. Moment. Es gibt doch die Schulentwicklungsprogramme. Die werden auch Ihnen, den Politikern, vorgelegt. Da hätten Sie rechtzeitig was sagen können. REESE: Haben wir doch. Wir haben früh genug angesprochen, dass da was auf uns zukommt. Nur hat die Verwaltung es nicht umgesetzt. Finden Sie gut, dass die Stadt nun auf Holzbauten setzt? REESE: Da halte ich wenig von. Die Erfahrung zeigt, wie viel Jahre die Schüler in Pavillons sitzen – immer länger als man meint. Außerdem haben wir damit ständig baulichen Ärger. Sie kosten Unsummen an Unterhaltung, und die Aufenthaltsqualität ist schlecht. Solide Bauten sind mir lieber. Der Bürgermeister sagt, Steinbauten dauern zu lange. REESE: Erst mal hat er es selber verschlafen. Und zweitens hat er unrecht. Er behauptet, die Stadt wäre in diesem Fall erst in 15 Jahren damit fertig. Wenn man sieht, wie schnell neue Siedlungen entstehen, dann weiß man, dass es schneller geht. Unsere heimischen Bauunternehmen schaffen das. Finden Sie die Verwaltung auch bei der Digitalisierung zu langsam? REESE: Teils, teils. Bei den Schulen scheint es jetzt in Schwung zu kommen. Das ist eine sehr komplexe Aufgabe, die die Städte da zu bewältigen haben, das muss man zugestehen. Gütersloh sieht dabei gar nicht so schlecht aus. Und in der Stadtverwaltung? REESE: Schulz verkauft den digitalen Umbruch immer als sein Lieblingsbaby, aber in seinem eigenen Haus ist noch einiges zu tun. Da geht noch was. Sind Sie im Homeoffice? REESE:Seit das mit Corona losging. Und ich finde, das funktioniert ganz gut. In der Verwaltung gibt es viele Dinge, die man von zuhause genauso gut erledigen kann. Sonst nehmen Sie ja wohl Bus und Bahn, um nach Bielefeld zu kommen? REESE: Seit die Busse vom 20- auf den 30-Minuten-Takt umgestellt haben, nicht mehr. Die Verbindung passt nicht mehr, nicht nur für mich, sondern für viele Gütersloher. Ich habe vor dieser Taktverlängerung gewarnt, aber es wollte keiner hören. Jetzt nehme ich das Klapprad und fahre damit zum Bahnhof. Ich bin überzeugter ÖPNV-Nutzer, und ich finde, Gütersloh braucht ein Angebot, das nicht um 20 Uhr endet. Auch abends muss man noch was anbieten. Sind Sie für kostenlosen Nahverkehr in Gütersloh? REESE: Ich wäre dafür. Andere Städte können das auch. Und falls nicht kostenlos, dann immerhin das Ein-Euro-Ticket bitte. Oder ein billiges 30-Tage-Ticket, mit dem die Leute rumfahren können, wann und wie sie wollen. Nahverkehr, der genutzt werden will, muss einfach sein. Bezahlen wir das über eine höhere Gewerbesteuer? REESE: Jahrelang haben wir Linken das in der Tat gefordert. Jetzt sehe ich das etwas anders. Der Wirtschaft geht es gerade nicht gut, durch Corona steht den Firmen das Wasser bis zum Hals. Steuern zu erhöhen, wäre jetzt verkehrt. Sinnvoll wäre es gewesen, wir hätten die Steuern vor Jahren erhöht, dann hätte die Stadt jetzt ein Polster. Spare in der Zeit, dann hast du in der Not. Wenn ich mich recht erinnere, waren Sie der erste Politiker, der mit einem Laptop in die Stadtratssitzungen ging. REESE: War das so? Ich bin ein Fan von Computern, das stimmt. Schon in den Achtzigern habe ich mir meinen ersten gekauft, und in der Stadtverwaltung Bielefeld war ich der erste, der damit die Ausschreibungen machte.

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