„Selbst das bekomme ich nicht hin“: Bielefelderin spricht über ihre Suizidversuche

Bielefeld. Ihre Eltern wollten sie nicht, der Vater war Alkoholiker. &bdquo;Ich wurde in der Verwandtschaft herumgereicht, landete – verwahrlost und unterernährt – in verschiedenen Pflegefamilien“, berichtet Sabine T. (Name geändert). Sie habe früh gelernt, stillzuhalten, bloß nicht aufzufallen und sich möglichst unsichtbar zu machen. &bdquo;Wie komme ich weg aus dieser Welt?“ Diese Frage habe sie schon als Jugendliche beschäftigt. Freude habe sie nie empfunden. &bdquo;Ich hatte immer das Gefühl, keine Berechtigung zum Leben zu haben“, ergänzt die 59-Jährige. Aber sie habe funktioniert, die Schule absolviert, in der Gaststätte der Pflegefamilie ausgeholfen, nebenher gejobbt und das Geld abgedrückt, ihre Großmutter und später auch ihre Pflegemutter gepflegt. Obwohl beide alles andere als liebevoll zu ihr gewesen seien. Nach dem Schulabschluss absolvierte Sabine T. eine kaufmännische Ausbildung. Im Alter von 20 Jahren habe sie dann das erste Mal versucht, sich das Leben zu nehmen. &bdquo;Ich hatte alles genau geplant, mir den Ort – ein einsames Waldstück an den Heeper Fichten – genau angeschaut.“ Ein Schäferhund habe sie dann ab rechtzeitig dort gefunden. Sollte das vielleicht so sein? Diesen Gedanken habe sie nicht gehabt. Sondern vielmehr: &bdquo;Selbst das bekomme ich nicht hin.“ Innere Einsamkeit und die Todessehnsucht Sie sei nicht normal, &bdquo;alle halten mich für verrückt“: Das habe sie lange angenommen. Der Psychologe habe ihr seinerzeit nicht helfen können. Die Erfahrungen seien eher negativ gewesen. Trotz Traumata, Depressionen und fehlender Lebenslust sei sie all die Jahre aber dann jeden Morgen gewissenhaft aufgestanden, habe &bdquo;sogar sehr erfolgreich“ in Vollzeit im Personalbereich gearbeitet. Aber es sei jeden Morgen ein Kampf gewesen. &bdquo;Ich war immer ein sehr disziplinierter Mensch“, sagt Sabine T. Das Gefühl der inneren Einsamkeit und die Todessehnsucht hätten sie immer begleitet. Nach dem Tod ihrer Pflegemutter, die sie &bdquo;aus reinem Pflichtgefühl“ gepflegt hat, sei sie dann 2015 körperlich und psychisch total zusammengebrochen. &bdquo;Da konnte ich alles loslassen.“ 2017 habe sie erneut einen Suizid geplant. &bdquo;Ich hatte einen Abschiedsbrief geschrieben für meine damalige Therapeutin“, erinnert sich Sabine T. Allerdings habe sie ihr versprochen gehabt, nach deren Urlaub noch da zu sein. &bdquo;Deshalb habe ich es dann doch nicht durchgezogen.“ Mehr zum Thema: Einsamkeit als soziale Krise – Bielefelds unsichtbare Epidemie Bei einem stationären Aufenthalt im Evangelischen Klinikum Bethel (EvKB) lernte Sabine T. dann die leitende Psychologische Psychotherapeutin, Verhaltens- und Traumatherapeutin Kristina Hennig-Fast kennen. Lange Zeit sei gar nicht an dem eigentlichen Problem, den traumatischen Erlebnissen aus der Kindheit, gearbeitet worden, sagt diese. Gemeinsam besuchten sie prägende Orte, auch die, die Sabine T. in Bielefeld für einen möglichen Freitod ins Auge gefasst hatte. Sie habe gelernt, diese auszuhalten. Und sich entscheiden: &bdquo;Ich will aber leben“. &bdquo;Vorher hatte ich nie verstanden, was ich habe“, ergänzt die 59-Jährige. Es sei ein langer Prozess gewesen. Geholfen habe ihr, dass sie mit der stationären und ambulanten Therapie immer einen Ort hatte, der ihr Halt gibt. &bdquo;Dass ich Vertrauen fassen konnte und mir ein Weg aufgezeigt wurde, wie ich damit umgehen kann – und ich den nicht allein gehen muss.“ Tolle Familie und Freunde, erfolgreich – und trotzdem tief verzweifelt Depression und Suizidalität beruhten nicht nur auf belastenden Erfahrungen, sondern könnten auch als biologisch verankert verstanden werden, ergänzt Hennig-Fast. &bdquo;Betroffene mit einem hohen biologischen Krankheitsfaktor weisen oftmals chronische Suizidalität auf“, berichtet die Expertin. Tolle Familie, großer Freundeskreis, Erfolg im Beruf, finanziell super aufgestellt: Nach außen hin erscheine oftmals alles bestens. &bdquo;So sei erst einmal schwer nachzuvollziehen, warum auch diese Menschen so tief verzweifelt sind und bleiben, sodass sie keinen anderen Ausweg als einen Suizid sehen“, sagt Hennig-Fast. Oft liege aber eine Störung in der Neurotransmission vor und es fehle oft auch die Erfüllung eines Grundbedürfnisses, zum Beispiel dem Wunsch nach dem Gefühl der Verbundenheit. Lesen Sie auch: Fast eine Million Menschen in der Region haben Depressionen Auch heute noch gebe es dunkle Momente, sagt Sabine T.. Aber sie könne damit leben. Ihre Haltung habe sich verändert. Wirklich glücklich sei sie immer noch nicht. &bdquo;Aber es gibt viele Momente, in denen ich zufrieden bin“, sagt Sabine T. Zum Beispiel, wenn sie mit ihrem Hund im Wald spazieren geht. Oder einen Ausflug in die Herrenhäuser Gärten macht: So etwas sei lange Zeit undenkbar für sie gewesen. Auch eine gute Freundin hat sie in der Klinik gefunden. Sie besucht einen Englischkurs, geht zu einer Rommérunde und interessiere sich erstmals überhaupt dafür, sich farbenfroher zu kleiden und für ihre Frisur. &bdquo;Und wer weiß, was noch kommt“, sagt Sabine T. und lächelt zaghaft. Mit ihrer Geschichte möchte sie anderen Mut machen. &bdquo;Aber man kann nicht alle retten“, ergänzt sie.

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