Immer mehr psychische Erkrankungen? Zwei Bielefelder Psychiater erklären den Trend

Bielefeld. Es ist eine gute Nachricht, die zwei Experten des Evangelischen Klinikums Bethel (EvKB) wichtig ist. Gerade weil in der Öffentlichkeit oft das undifferenzierte Bild einer Gesellschaft im Krisenmodus, in Konflikt und Krankheit gezeichnet wird, halten sie dagegen: Die Menschen in Deutschland und auch die in Bielefeld werden seelisch keineswegs immer kranker. Dieser Eindruck werde medial vermittelt und präge die öffentliche Wahrnehmung, kritisiert Martin Driessen, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie im EvKB und Professor an der Medizinischen Fakultät der Uni Bielefeld. Studien belegten: Zwischen 25 und 28 Prozent der Erwachsenen in Deutschland entwickeln innerhalb eines Jahres eine psychische Störung. Das entspricht etwa 18 Millionen Menschen. Keine geringe Zahl, aber eben ein Maß, das über Jahre nicht zugenommen hat. Unterscheiden müsse man hier zwischen Bevölkerungsepidemiologie und &bdquo;administrativer Prävalenz“, also den Zahlen von Anbietern von Gesundheitsleistungen, erläutert Driessen. Hier gebe es große Abweichungen, weil die Bereitschaft der Menschen, Hilfen anzunehmen, gestiegen sei, sie dort also erfasst würden. Auch die Enttabuisierung psychischer Störungen sorge dafür, dass die Zahlen steigen. Dennoch stehen psychische Erkrankungen laut einer Studie der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie (DGPPN) an vierter Stelle bei den Ursachen für den Verlust gesunder Lebensjahre. Die Lebenserwartung von Menschen mit psychischen Erkrankungen sei demnach sogar um rund zehn Jahre kürzer als die der Allgemeinbevölkerung. Bielefelder Experten: Coronazeit bildet Zäsur Trotz stabiler Zahlen bei den Erwachsenen sieht es bei Kindern und Jugendlichen seit der Corona-Pandemie ganz anders aus. Sie seien stärker von psychischen Störungen betroffen. &bdquo;Besonders während der Schulschließungen gingen die Zahlen hoch“, betont Stefanie Horndasch, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendlichen-Psychiatrie und ebenfalls Professorin an der Medizinischen Fakultät. Lesen Sie auch: Bielefelder-Professorin: &bdquo;Jugendliche sind einsam und stehen unter enormem Druck“ Das Bild sei eindeutig: &bdquo;Nach einer längeren Phase stabiler Zahlen, hatten wir einen Rückgang um 2017, doch die Coronazeit bildete eine Zäsur. Ab 2020 schnellten die Zahlen in die Höhe.“ Angststörungen, Depressionen, Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten (wie etwa das &bdquo;Ritzen“) – bei vielen psychiatrischen Diagnosen steigt die Anzahl Betroffener immer noch deutlich. Nach der sogenannten COPSY-Studie habe der Zuwachs bei von Essstörungen Betroffenen bei 52 Prozent, &bdquo;in Bayern sogar bei 100 Prozent“ gelegen, so Horndasch, die hier über eine besondere Expertise verfügt. Andere Erkrankungen im psychiatrischen Spektrum seien leicht zurückgegangen, sind aber längst nicht auf dem Vor-Corona-Niveau. Besonders Mädchen leiden unter Esstörungen Die Gründe für ein Hineinschlittern während der Pandemie in eine Essstörung, die lebensbedrohend sein kann, sind laut den Fachleuten vielfältig: Kinder und Jugendliche wurden von den Einschränkungen in der Pandemie in wichtigen Entwicklungsphasen getroffen. Tagesstruktur und Kontakte seien weggefallen. Psychotherapie in OWL: So erhalten Sie Hilfe, wenn Sie keinen Platz finden Im Lockdown hätten sich viele intensiv mit ihrem Körperbild beschäftigt, durch exzessiven Medienkonsum befeuert. Fehlende Bewegung, auch wegen geschlossener Sportstätten und Fitnessstudios, Videokonferenzen statt echter Begegnung führten bei vielen zur Gewichtszunahme. Besonders Mädchen begegneten dem mit Fasten und exzessivem Sporttreiben – bis heute. Generell reagierten Kinder und junge Leute auf die Unsicherheiten in einer Krise – heute kommen globale Krisen durch Krieg und Klimawandel hinzu – mit &bdquo;massivem Stresserleben“. Vermeintliche Sicherheit verschaffe es dann, den Körper durch Hungern oder Erbrechen zu beherrschen. Die verzerrten und idealisierten Körperbilder, die soziale Medien wie TikTok und Instagram befeuerten, tun ihr Übriges. Stefanie Horndasch: &bdquo;Kernspin-Aufnahmen zeigen eindrucksvoll, was im Gehirn auf der neuronalen Ebene und im Belohnungssystem passiert.“ Psychische Störungen nehmen auch bei alten Menschen zu Eine weitere Gruppe, die seit der Pandemie ebenfalls vermehrt seelisch erkrankt, seien sehr alte Menschen. &bdquo;Die Gebrechen des Alters können frustrieren. Hinzu kommt, dass wir ein immer höheres Alter erleben. So nehmen psychische Störungen zwangsläufig zu“, erklärt Driessen. Beide Experten für psychische Gesundheit betonen, dass es in unserem reichen Industrieland noch immer an ausreichenden Behandlungsstrukturen fehle. Das sei etwa in den skandinavischen Ländern anders. Horndasch: &bdquo;Wenn man als Jugendlicher in Deutschland einen Therapieplatz sucht, hat man es wirklich schwer.“ Auch verzögere das Verschweigen und Verdrängen psychischer Probleme die Behandlung, so Martin Driessen: &bdquo;Die Probleme unter der Decke zu halten, verhindert Hilfe.“ Driessen schlägt vor, dem Dilemma der knappen Therapieplätze kurzfristig mit Online-Therapiesitzungen zu begegnen. &bdquo;So wie in der Pandemie. Bei bestimmten Problemstellungen kann man die gleiche Wirksamkeit erreichen, wie bei der persönlichen Begegnung. Leider wurde dies nach der Pandemie wieder zurückgefahren.“ Auch könne man einiges von der stationären auf die ambulante Ebene verlagern. &bdquo;Fachlich sind wir schon längst so weit. Aber in Deutschland sind wir da etwas hinter der Zeit“, bedauert der Experte. Auch interessant: Bielefelder Initiative gegen die Zunahme psychischer Erkrankungen

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