Bielefelder Krisenmanager blickt zurück: Das sind die wichtigsten Corona-Lehren

Herr Nürnberger, mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie vor fünf Jahren änderte sich auch in Bielefeld das Leben von einem Tag auf den anderen. Sie waren Leiter des Krisenstabs der Stadt und schlagartig mit ungewohnten Aufgaben konfrontiert. Wie denken Sie heute an diese Zeit? Ingo Nürnberger: Das war herausfordernd, aber auch spannend, weil ich in kürzester Zeit viel gelernt habe – über unser Gesundheitssystem oder wie man Menschen motiviert, Verantwortung zu übernehmen. Es war auch belastend, denn es ging ja um Krankheit, auch um Tod. Wir mussten in die Freiheit der Menschen sehr tief eingreifen. Am Anfang haben die Kommunen die Regeln gemacht, dann mussten wir die von Bund und Land umsetzen. Das war für alle sehr belastend. Würden Sie sagen, dass Bielefeld mit seinen 845 Coronatoten (ca. 170.000 waren es bundesweit) gut durch die Pandemie gekommen ist? Jeder, der mit oder an Corona gestorben ist, ist einer zu viel. Insgesamt glaube ich schon, dass wir recht gut da hindurchgekommen sind. Was auch daran liegt, dass wir eine erfolgreiche Impfkampagne hatten. Die Pandemie mit ihren Maßnahmen verlief in Phasen: In der ersten Phase ging es um die Nachverfolgung von Infektionsketten. Weihnachten 2020 kam es in Bielefeld zu einem Melderückstau, den man Ihnen anlastete. Wie stehen Sie heute zu den Angriffen auf Ihre Person? Das war nicht schön. Ich glaube, ich habe mich damals selbst am meisten geärgert. Der Januar und Februar 2021 waren für mich maximal unangenehm, weil man mich und unsere Arbeit insgesamt mit Unzuverlässigkeit verband und nicht mit dem, was wir bis dahin geleistet hatten. Ich würde aber nach wie vor sagen, dass ich den Urlaub nehmen musste. Ich war nach zehn Monaten Krisenstab gesundheitlich angeschlagen. Aber ich hätte noch mehr Wert darauf legen müssen, dass die Vertretungsregelungen wirklich funktionieren. Das ist eine Lehre, die ich gezogen habe. Heute herrscht weitgehend Konsens unter Fachleuten, was die sozialen und wirtschaftlichen Kosten angeht. Wir hatten isolierte Altenheimbewohner, einsam Sterbende, Schul-Lockdowns, die zu Vereinsamung von Kindern und Jugendlichen führten, lange Kita- und Spielplatzschließungen, Geschäfts- und Gastro-Lockdown, teilweise mit der Vernichtung wirtschaftlicher Existenzen. Um nur einiges zu nennen. Sie mussten als Krisenmanager vieles davon in Bielefeld durchsetzen. Wie schauen Sie heute darauf? Im Nachhinein ist man immer schlauer. Heute würde ich sagen, dass manche Regeln übertrieben waren. Die Frage, ob Kinder auf dem Spielplatz sein dürfen, ob man nebeneinander auf einer Bank sitzen darf – das wissen wir heute besser. Irgendwann haben wir gelernt, dass die Ansteckungsgefahr draußen sehr gering ist. Ich würde auf jeden Fall sagen: Das lange Ausschließen von Kindern aus ihrem normalen Leben war falsch. Die Kollateralschäden waren zu hoch. Auch das Alleinlassen älterer Menschen – zum Teil in ihrer allerletzten Lebensphase – das dürfen wir so nie wieder machen. Das war wirklich nicht human. Wir müssen die richtigen Schlussfolgerungen ziehen. Deshalb ärgert es mich, dass der Bundestag bislang keine Aufarbeitung der Pandemiemaßnahmen hingekriegt hat – sowohl in gesellschaftspolitischer wie sozialmedizinischer Hinsicht. Keiner wollte die Menschen mutwillig unterdrücken. Wir Verantwortungsträger waren alle auf Sicherheit und Risikovermeidung bedacht. Alle meinten es gut. Lesen Sie auch: Erster Lockdown vor fünf Jahren – was bleibt Kinder galten zeitweise als Pandemietreiber und wurden deshalb oft mit spitzen Fingern angefasst. Heute schreibt man viele Folgen dieser Stigmatisierung zu, etwa eine Zunahme von Depressionen, Angststörungen, Essstörungen, schulische Lücken bis hin zu dauerhaften Bildungsnachteilen. Frauen und Kinder mussten verstärkt in häuslicher Isolation Gewalt erleben. Können Sie sich erklären, warum damals die Warnung seitens vieler Fachleute vor diesen Folgen von den Entscheidern so konsequent ignoriert wurde? Darüber habe ich viel nachgedacht. Zum einen vielleicht ganz banal, weil sich erwachsene Verantwortungsträger so schlecht in die Köpfe, Herzen und Seelen von Kindern hineinversetzen können. Die Folge ist, dass wir die gesellschaftlichen Risiken trotz der Mahnungen unterschätzt haben. Der zweite Grund: Weil die Alternativen so unbequem waren, weil dann ja die Einschränkungen für die Erwachsenen noch härter hätten ausfallen müssen, mit allen wirtschaftlichen Folgen. Zugespitzt formuliert: weil die Entscheidungen von Erwachsenen getroffen wurden. Eine Zuspitzung von vielen auch in unserer Stadt ist mir im Gedächtnis geblieben: Im Sommer 2021 brach eine regelrechte Hysterie unter Eltern aus, als es während der Ferienspiele im Bielefelder Süden einen Coronaausbruch gab. Hätte die Stadt das mehr versachlichen müssen, statt alles dichtzumachen? An den Einzelfall erinnere ich mich dunkel. Wir waren im ständigen Zwiespalt, die Leute zu beruhigen und zugleich das Achtsamkeitslevel hochzuhalten. Der Erwartungsdruck, für möglichst viel Sicherheit zu sorgen, war sehr hoch. Ich habe versucht, darum zu werben, auf den gesunden Menschenverstand zu schauen, die Aufregung nicht weiter anzustacheln. Gleichzeitig war die Erwartung von Bund und Land, die Leute zur Vorsicht anzuhalten. ? Als Impfungen flächendeckend verfügbar waren, gab es schnell eine Polarisierung zwischen Impfwilligen und jenen, die sich aus diversen Gründen nicht impfen lassen wollten. Heute weiß man, der Fremdschutz der Impfung ist überschaubar. Zuvorderst geht es um den Selbstschutz vor schweren Verläufen. Dann steckten sich immer mehr Geimpfte an. Trotzdem gab es 2G, 3G. Der damalige Bundesgesundheitsminister Jens Spahn prägte das viel zitierte Diktum von einer &bdquo;Pandemie der Ungeimpften“, Markus Söder sprach von einer &bdquo;Diktatur der Ungeimpften“, andere reflexhaft von Coronaleugnern. Diese Stimmung war auch in Bielefeld zu spüren. Haben Sie eine Erklärung für diese Radikalisierung der Standpunkte? ? Dadurch, dass man sich durch die Impfung vor schwerer Erkrankung schützen konnte, wurden die Kliniken und niedergelassenen Ärzte entlastet. Impfen ist immer auch ein solidarischer Akt. Aber man muss für Solidarität werben und nicht diejenigen, die Fragen haben, beschimpfen. Das war ein Riesenfehler. Es hat zu dieser dauerhaften gesellschaftlichen Spaltung geführt, unter der wir bis heute leiden. Das könnte Sie auch interessieren: Bielefelder Professorin: Jugendliche sind einsam und stehen unter enormem Druck Im Winter 2021 begannen auch in Bielefeld die sogenannten &bdquo;Lichterspaziergänge“. In weiten Teilen der Gesellschaft galten sie als reine Coronaleugner-Veranstaltungen. Wie haben Sie sie wahrgenommen? Und hätte man der Spaltung der Stadtgesellschaft, zu der auch die Medien in Teilen beitrugen, stärker entgegentreten müssen? Insgesamt müssen wir in allen Krisensituationen – ob das eine Pandemie ist oder ein starker Flüchtlingszuzug – dafür sorgen, dass der Gesprächskontakt nie abreißt. Zumindest zu denjenigen, die bereit sind, sachlich und faktenbasiert zu diskutieren. Ich meine, dass wir in Bielefeld eine gute Öffentlichkeitsarbeit geleistet haben, auf dem Wissensstand, den wir damals hatten. Hat die Stadt nach der Pandemie Programme aufgelegt, um die Folgen der Maßnahmen zu kompensieren? Ja. Wir waren eine von wenigen Städten, die einen Corona-Aktionsplan auflegten, millionenschwer ausgestattet. Das waren Programme für Kinder und Jugendliche, bei denen es vor allem um das Thema Freizeit ging – kostenlose Kulturevents, Familienfeste auf dem Kesselbrink. Wir haben versucht, die älteren Menschen wieder aus ihren Wohnungen zu holen und haben dafür u. a. Spaziertreffs in den Vierteln geschaffen, die bis heute funktionieren. Außerdem müssen die Mittagstische erwähnt werden, Sprachförderung für zugewanderte Eltern, Nachhilfe für Schüler, die fast verloren gegangen sind. Später kamen die Landesprogramme hinzu. Es wurden ja für viel Geld Luftfilter für die Schulen angeschafft, die heute niemand mehr haben will. Was ist mit den Geräten passiert? Das ist nicht mein Ressort, aber ich vermute, dass sie weitgehend ungenutzt rumstehen. Diese Aktion war ja auch ein Ergebnis des großen öffentlichen Drucks. Sie galt aber auch als Antwort, um nicht wieder Schulen schließen zu müssen. Insgesamt haben wir aber auch das sehr ,deutsch’ umgesetzt. Es gab in Bielefeld – Stichwort Versammlungs- und Verweilverbot – Menschen, die regelrecht vom Ordnungsamt verfolgt wurden. Heute werden immer noch Bußgelder eingetrieben. Sollte man das jetzt an aktuelle Erkenntnisse anpassen? Generell geht es ja darum, wie wir miteinander umgehen. Widerstand gegen die Regeln, die damals nach bestem Wissen erlassen wurden, darf ja nicht komplett folgenlos sein. Aber man muss es heute auch nicht übertreiben. Es gibt immer Ermessensspielräume, wie hart man jetzt noch sanktioniert. Würden Sie zustimmen, dass der Debattenraum in der Pandemie sehr verengt war? Ja. Weil wir alle hochgradig verunsichert waren und weil in diesem Land auch sehr hart mit Verantwortungsträgern umgegangen wird, wenn sie in einer schwierigen Situation Entscheidungen treffen, die man im Nachhinein kritisch sehen kann. Wir müssen einander solche Entscheidungen verzeihen können. Am besten nach einer Aufarbeitung, die eben immer noch fehlt. Insgesamt ist dieses Land wirtschaftlich und gesundheitspolitisch gesehen gut durch die Pandemie gekommen. Lesen Sie auch: Zwist in Koalition über Corona-Aufarbeitung Fünf Jahre nach Pandemiebeginn haben wir große Schwierigkeiten mit dem Erstarken extremistischer Gruppen und Parteien, mit der Radikalisierung von Meinungen. Experten schreiben das auch den Pandemie-Bewältigungsstrategien zu. Würden Sie zustimmen? Die Pandemie hat definitiv zu mehr Skepsis gegenüber dem Staat beigetragen. Manche Menschen wurden anfälliger für Verschwörungstheorien. Da wir auf eine Aufarbeitung auf staatlicher Ebene bislang verzichtet haben, weil man sich nicht einigen konnte, wie man das alles transparent aufarbeiten möchte, bedient man natürlich diejenigen, die glauben, dass da eine finstere Macht am Werk ist und es einen Deep State gibt. Aber ich finde die Diskussion vor Ort, wie wir sie beispielsweise in diesem Gespräch führen, auch sinnvoll. Würden Sie so eine Aufarbeitung auch auf kommunaler Ebene befürworten? Die Kommunen waren ab einem relativ frühen Zeitpunkt ja nur noch Exekutive für die Maßnahmen. Unsere eigenen Handlungsspielräume waren nach wenigen Wochen Pandemie maximal eng. Deswegen muss die Aufarbeitung vor allem auf Bundes- und Landesebene stattfinden. Mit dem Wissen von heute: Würden Sie vieles anders machen? Manches schon. Ich würde versuchen, stärker in die Bevölkerungsgruppen hinein zu kommunizieren, die mit den klassischen Medien nicht gut erreichbar sind. Das sind vor allem junge Leute oder Menschen mit Sprachbarrieren. Um die haben wir uns in der Hektik nicht gut gekümmert. Bei den Kita- und Schulschließungen und dem Umgang mit Menschen in Behinderten- oder Alteneinrichtungen würde ich als Verantwortlicher viel stärker Bedenken äußern. Denn die hatten wir ja schon damals. Ich habe oft gesagt: Lasst uns das mit gesundem Menschenverstand machen.? Würden Sie sagen, dass die Pandemie bestehende Ungleichheiten verstärkt und Populismus befördert hat? Ja, das stimmt leider.

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