Kündigung: So kann historischer Bielefelder Schatz doch noch gerettet werden

Bielefeld. Müde sieht er aus, grau im Gesicht. Die Falten um die Mundwinkel sind ein bisschen tiefer geworden. Fast so tief, wie er in den hellen Polstersessel seines Wohnzimmers am Mauseteich eingesunken ist. Frank Becker hat eine schwere Zeit hinter sich und wohl auch noch vor sich, obwohl der bald 65-Jährige doch seinen (Un-)Ruhestand genießen wollte. Aber auf das emotionale Aus des Familiengeschäftes &bdquo;Papier Bröker“ nach 124 Jahren, folgte jetzt eine Kündigung, die den Brackweder vor neue große Herausforderungen stellt, die ein weiteres Lebenswerk bedrohen. Am 31. März war offiziell der letzte Tag des einst florierenden Traditionsgeschäftes an der Hauptstraße in Bielefeld, das dank seines umfangreichen und teils sehr ausgefallenen Sortiments zu den Dinosauriern des Bielefelder Einzelhandels gehörte. Frank Becker und seine Schwester Katrin, die den Laden jahrzehntelang geführt hatten, haben den langwierigen Bau der Hauptstraße in Bielefeld zum Sargnagel ihres Geschäftes erklärt. &bdquo;Seit Januar bin ich schon Einzelkämpfer“, erzählt der 64-Jährige, dessen Schwester zu diesem Zeitpunkt eine neue Stelle in Steinhagen angetreten hat. Jeden Morgen um 5 Uhr aufstehen und bis abends durch. Letzte Posten verkaufen, Material verschenken, Abnehmer für die Inneneinrichtung suchen, die noch zu schade für die Abfallmulde ist. Aus dem alten Bielefelder Laden sollte nichts mit nach Hause &bdquo;Ich hatte mir geschworen, nichts mit nach Hause zu nehmen. Sonst steht es noch 100 Jahre da“, sagt Becker mit einem müden Lächeln. Einige Dekomaterialien haben aber wohl doch den Weg an den Mauseteich gefunden, denn auf der gut gefüllten Fensterbank hat der Osterhase bereits unübersehbar Einzug gehalten. Lesen Sie auch: Inventar verschenkt: Bekanntes Bielefelder Traditionsgeschäft schließt nach 124 Jahren Die Brackweder Schulen und Kindergärten konnten sich beispielsweise über jede Menge Stifte, Bastelmaterialien und Klebstoffe freuen. Die alte Füllhaltervitrine steht nun in Hessisch Oldendorf im Museum, ebenso wie die alte 4,50 Meter lange Ladeneinrichtung aus dem Keller. Die Büroeinrichtung konnte Verdi in Rheda-Wiedenbrück noch gebrauchen. &bdquo;Ein Großteil der Einrichtung ist 1979 von Tischler Tuxhorn für unseren Laden handgefertigt worden“, erzählt der 64-Jährige. &bdquo;Die hätte noch 200 Jahre gehalten.“ Die dicke Tresenplatte im Verkaufsraum konnte Frank Becker nach seiner Schilderung nur mit dem Vorschlaghammer und viel Krafteinsatz zerlegen. Bielefelder ist Kaufmann, Mediensammler, Kinobetreiber und mehr Für den Studiotisch des Tonstudios im Untergeschoss von &bdquo;Papier Bröker“ brauchte es aber fünf Mann, um das Ungetüm aus dem Keller an der Hauptstraße ins ehemalige Filmtheater &bdquo;Zentral“ an der Hauptstraße 27 zu schaffen. Becker ist nämlich nicht nur Kaufmann, sondern seit seinem 14. Lebensjahr auch Medienschaffender und vor allem -sammler. Außerdem ist er Einzelkämpfer im Brackweder &bdquo;Melodie“-Kino und überträgt seit 23 Jahren aus dem Studio am Mauseteich einmal monatlich das Funkjournal für Radio Bielefeld. Doch dazu später mehr. Ein Nachbar von gegenüber an der Hauptstraße habe ihn bei seiner Schlepperei beobachtet und schließlich gefragt, ob er helfen könne. Er konnte. 400 Kilo Metall landeten anschließend beim Schrotthändler, zwei große Abfallmulden wurden abgefahren. Den Rest hat Becker zum Schluss vor die Tür gestellt und verschenkt. Jetzt ist er körperlich &bdquo;einfach leer“. In diese Phase platzte für Frank Becker ganz unerwartet eine Kündigung wegen Eigenbedarf. Bis Ende September muss er eines seiner drei Lager in Brackwede räumen, in dem rund 20.000 Filmrollen gelagert werden. &bdquo;Das ist für mich die nächste Katastrophe.“ Becker hat als Medienarchivar über Jahrzehnte die größte private Film- und Tonsammlung in Deutschland aufgebaut, ist Vorsitzender der Stiftung Medienarchiv Bielefeld. Hauptsächlich für diese Kulturarbeit hat er im Dezember 2023 das Bundesverdienstkreuz erhalten. Auch interessant: Bausubstanz zu marode – historisches Haus abgerissen Mehr als 100.000 Filme im riesigen Bielefelder Archiv Mehr als 100.000 Filmrollen, dazu viele einzigartige Ton- und Druckmedien sowie Kinotechnik und Filmequipment füllen die Archivräume und das &bdquo;Zentral“. Sie werden immer wieder von Fernsehsendern und Filmschaffenden angefragt und ausgeliehen. Doch im Moment fehlt dem 64-Jährigen jeglicher Mumm, die Kraft und die Zuversicht. &bdquo;Wenn wir keinen Raum finden, muss ich Kulturgut der letzten 80 bis 90 Jahre vernichten“, sagt Becker und lässt den Kopf hängen. Selbst über einen Rücktritt vom Stiftungsvorsitz habe er nachgedacht und die vollständige Abgabe seines Lebenswerkes. Soweit will es Vincenzo Copertino nicht kommen lassen. Der Bielefelder Rechtsanwalt und Kommunalpolitiker ist Beisitzer der Stiftung und unterstützt Frank Becker. &bdquo;Eine Entsorgung ist für mich undenkbar. Das Material ist ein Kulturschatz. Daher müssen wir eine Lösung finden.“ Gesucht wird ein trockener Raum mit einer Größe von 260 bis 300 Quadratmetern Fläche. Wegen der Last der Regale muss auch die Statik stimmen. Sorge, dass die zu lagernden Medien gefährlich sein könnten, muss sich laut Becker niemand machen. 2022 war eines seiner Lager an der Treppenstraße durch einen Brand in große Mitleidenschaft geraten, die Ursache hatte damals nicht festgestellt werden können. Rund 10.000 Filme warten seither im Bunker der Brackweder Firma Agfeo noch auf ihre Reinigung. Archiv: Fotos zeigen die Zerstörung durch das Feuer im Bielefelder Film-Archiv Schon 2022 schwere Belastung nach Brand in einem Filmarchiv Selbstentzündung ist theoretisch dann möglich, wenn alte Nitrofilme gelagert sind. &bdquo;Der Bestand ist nitrofrei“, betont der Medienarchivar. Nach dem Brand sei der gesamte Bestand von 80.000 Filmen zweimal Rolle für Rolle überprüft worden. Gefundene Filme mit Nitromaterial seien an das Staatsarchiv Wien abgegeben worden. &bdquo;Mitarbeiter haben das hier vor Ort abgeholt.“ Bei dem Bestand, für den jetzt ein neues Lager gesucht wird, handelt es sich um Unterrichtsfilme der heimischen Bildstellen für Schulen. Außerdem die umfassende Kinofilmsammlung des verstorbenen Wolfsburger Filmsammlers Wolf Christian Schneider, die die Erben 2011 der Frank-Becker-Stiftung als Zustiftung überlassen hatten. Wer einen Raum zu vermieten hat oder eine Idee, wo das Material unterkommen könnte, schreibt an info@medienarchiv-bielefeld.de Lesen Sie auch: Selten in Bielefeld – Mieter im obersten Stockwerk bekommen exklusiven Dachgarten

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