Demografischer Wandel

Immer mehr Bielefelder müssen gepflegt werden: Heimplatz ist oft zu teuer

Die Babyboomer kommen ins Rentenalter. Damit steigt in den nächsten Jahren auch die Zahl der Pflegebedürftigen weiter an. Viele wollen so lange wie möglich zu Hause leben. Innovative Wohnprojekte und Beratungsstellen können helfen.

Die Zahl auf Pflege angewiesener Mitmenschen nimmt zu, das Umfeld braucht oft von heute auf morgen viele Informationen. | © epd

Heike Krüger
03.04.2025 | 03.04.2025, 13:31

Bielefeld. Es kann von heute auf morgen passieren – der berühmte Oberschenkelhalsbruch bei einem Hochbetagten – und der alte Herr kann sich nicht mehr selbst versorgen. Oder die Pflegebedürftigkeit kommt schleichend, wie bei der demenziell veränderten 75-Jährigen, die immer häufiger vergisst, was in den Kühlschrank gehört und was in den Schuhschrank. In beiden (fiktiven) Fällen stehen Angehörige neben der persönlichen Betroffenheit und dem Schock über den Abbau von Fähigkeiten bei ihren Lieben plötzlich vor einem Berg an Fragen und Entscheidungen.

Und die müssen möglichst schnell beantwortet und getroffen werden. Die Stadt Bielefeld lässt Betroffene und ihr Umfeld damit nicht allein. Sie organisiert Hilfen, berät und sorgt auch für die Gesunderhaltung der meist stark beanspruchten Angehörigen. Zuallererst kommt die städtische Pflegeberatung ins Spiel. Sie findet sich im Neuen Rathaus (Raum 118) und trägt den vollständigen Namen „Zentrale Beratungsstelle für Senioren und Menschen mit Behinderung“.

Sandra Seydel (links, Pflegeberatung Stadt Bielefeld) und Nora Kristin Gäbel (Büro für Sozialplanung, Stadt Bielefeld) halten eine breite Palette an Infobroschüren zur Pflege bereit. - © Sarah Jonek
Sandra Seydel (links, Pflegeberatung Stadt Bielefeld) und Nora Kristin Gäbel (Büro für Sozialplanung, Stadt Bielefeld) halten eine breite Palette an Infobroschüren zur Pflege bereit. | © Sarah Jonek

Hier laufen alle Fäden zusammen – von der Pflege- und Wohnberatung, über eine Teilhabeberatung für Menschen mit Behinderung bis hin zu einer kultursensiblen Altenhilfe. Will heißen: Hilfen für Menschen aus anderen Kulturkreisen. Eine solche Zentrale für alle Fragen rund um Pflege ist nötiger denn je, denn: Die Zahl der Pflegebedürftigen in Bielefeld ist in den letzten 20 Jahren nicht stetig, sondern beinahe sprunghaft gestiegen: Waren im Jahr 2005 noch 7.946 Menschen in häuslicher oder stationärer Pflege, wurden 2023 bereits 19.377 Personen mit Pflegebedürftigkeit erfasst. In der Zwischenzeit hatten die Zahlen kontinuierlich zugenommen (siehe Grafik).

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Corona-Pandemie ist ein Grund für Pflegebedürftigkeit

Geburtenstarke Jahrgänge, die Erweiterung des Pflegebegriffs – inzwischen gibt es fünf Pflegegrade anstelle von drei Pflegestufen –, aber auch eine „Zunahme seelischer Belastungsstörungen in und seit der Pandemie“ seien Gründe für Pflegebedürftigkeit, erklärt Sandra Seydel aus der Pflegeberatung der Stadt Bielefeld.

Im Gespräch konkretisiert die Fachfrau die Hintergründe des verblüffenden Zuwachses während der Pandemie: „Die so wichtigen Tagespflegeeinrichtungen mussten von heute auf morgen schließen. Die Menschen waren auf sich gestellt und mussten zu Hause bleiben.“

Mit der Folge, dass sich entwickelnde Krankheiten nicht bemerkt wurden, Menschen unter dem Radar geflogen seien, die ansonsten von aufmerksamen Betreuern in der Tagespflege eher in ihrer Bedürftigkeit entdeckt worden wären. „Dort würde man etwa bemerken, wenn ein Besucher dauerhaft nicht ausreichend trinkt, was gravierende Auswirkungen haben kann“, schildert Nora Kristin Gäbel vom Büro für Sozialplanung der Stadt.

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Nach der Pandemie sei die Tagespflege nicht im alten Maß zurückgekehrt. Manche Einrichtung wurde dauerhaft geschlossen, andere rutschten in die Pleite. „Diese Corona-Nachwirkungen machen sich bis heute bemerkbar“, bedauert Seydel. Vor allem betagte Menschen, die aber mit einer Tagespflege noch „gut ohne stationäre Unterbringung zurechtkommen“, hätten psychisch abgebaut und seien dadurch betreuungsbedürftig geworden.

Die meisten Pflegebedürftigen werden zu Hause betreut

Bekanntermaßen steigt der Anteil an demenziellen Erkrankungen mit dem Alter, die Zahlen insgesamt steigen durch die steigende Lebenserwartung. Auch das bildet die Statistik der Stadt ab. Erstaunlich: Überwiegend werden Männer und Frauen zu Hause betreut – oft von Angehörigen oder von professionellem Pflegepersonal der Pflegedienste.

Die Zahlen der stationär Betreuten, etwa in einem Pflegeheim, sind zwischen 2005 und 2023 in etwa gleich geblieben. Sie bewegt sich konstant um 2.800 Personen, während die Zahl der Zuhause Gepflegten steil von 5.098 in 2005 auf 16.722 im Jahr 2023 stieg. Gründe seien auch die erheblich gestiegenen Pflegekosten in den Heimen, denen viele Menschen nicht mehr gewachsen seien. Ein Beleg: „Es gibt genügend freie Pflegeplätze in Bielefeld“, so Gäbel.

Die Stadt bietet ihre Kompetenzen und Beratung im Pflegefall an, bahnt einen Weg durch den oft als „Pflege-Dschungel“ empfundenen Markt und Leistungen, die den Menschen zustehen. Da gibt es zunächst die Pflegeberatung, die zu Pflegegeld, Zuschüssen, Umbaumaßnahmen im Haushalt mit einem Pflegebedürftigen und mehr berät. Die Stadt veranstaltet zudem alljährlich die „Woche für pflegende Angehörige“, in diesem Jahr vom 13. bis 21. September. Hier, so Gäbel, stehe Information, neben Vernetzung und Entlastung. Viele Menschen hätten zum Ziel, so lange wie möglich zu Hause leben zu können. Damit ihnen das ermöglicht wird und sie ihre gesunden Jahre in Teilhabe und bei guter Versorgung erleben können, will die Stadt die Menschen selbst und ihre Pflegenden stärken.

Im Laufe der Jahre sei die Vernetzung aller Akteure, die mit Pflege zu tun haben, immer besser geworden, sagt Gäbel. „Die Last sollte auf mehrere Schultern verteilt sein, damit es nicht zur Überlastung kommt. Also informieren wir über alle Hilfen, die es gibt.“ Hinzu könne Nachbarschaftshilfe kommen, ein Einkaufsservice, Hausnotruf, Essen auf Rädern, Gesprächskreise und mehr. Zudem erwarten die Pflege-Profis, dass es in Zukunft immer mehr innovative Wohnprojekte geben wird, in denen die Generation der Babyboomer, die nun nach und nach in Rente geht, leben möchte – Mehrgenerationenhäuser, Senioren-WGs, begleitende ambulante Hilfen.

Pflege und Care-Arbeit sind Armutsrisiken für Frauen

„Entscheidend ist, diese Angebote nicht nur im Stadtzentrum anzusiedeln, sondern weit in die Viertel hineinzugehen“, schildert Seydel und verweist auf gute Beziehungen zu den Wohlfahrtsverbänden und zum Ärztenetz. Und auch auf das Infomobil „Hilde“, mit dem regelmäßig in die Stadtbezirke gefahren werde, um die Menschen niedrigschwellig und ohne Termin direkt vor ihrer Haustür zu erreichen.

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„Die Menschen werden selbstbewusster und fordernder, und das ist ja auch gut so“, beobachtet Sandra Seydel. Doch eins habe sich seit jeher nicht geändert: „Pflege ist nach wie vor weiblich.“ Das bedeutet: Es sind überwiegend Frauen, die oft zunächst ihre Kinder groß ziehen, dann für die eigenen Eltern sorgen und schließlich den Ehemann zu Hause pflegen. Die Kehrseite: Bis heute bleibe Pflege, oder neudeutsch „Care-Arbeit“, ein Armutsrisiko für Frauen. Und bediene damit immer noch jedes Klischee. Auch diesen Fakt haben die Profis aus dem Rathaus im Blick und versuchen, Angehörige so gut und individuell zu beraten, dass diese wirklich Entlastung erfahren. „Was wir tun, ist überwiegend Beziehungsarbeit, dann läuft auch das Fachliche“, hat Seydel festgestellt.

Menschen, die Beratung brauchen, können unkompliziert vorbeikommen oder einen Termin vereinbaren, Tel. 0521 51-34 99 oder auf www.bielefeld-pflegeberatung.de oder per E-Mail an pflegestuetzpunkt@bielefeld.de.