Missbraucht, schwanger, überfordert: Frauen kämpfen in Bielefeld um ihr Mutterglück

Bielefeld. Laura H. (19) fällt jedes Mal in &bdquo;Schockstarre“, ist handlungsunfähig, wenn ihr Baby nachts schreit, weil es Hunger hat. Ilona G. (29) gerät in Panik, wenn ihre Gynäkologin sie in ihrer ersten Schwangerschaft vaginal untersucht. Und Adriana P. (40, alle Namen geändert) traut sich trotz ihres großen Kinderwunsches nicht, dem Drängen ihres langjährigen Partners nachzugeben und schwanger zu werden. Drei verschiedene &bdquo;Fälle“, ein vergleichbarer Hintergrund: Alle drei Frauen erlebten in ihrer Kindheit und Jugend sexuellen Missbrauch. Die nächtlichen Bedürfnisse ihres Kindes erinnern Laura an die nächtlichen &bdquo;Überfälle“ des (ihr vertrauten) Täters. Alte Muster der seelischen Abspaltung vom Geschehen laufen ab. &bdquo;Untersuchungen des Vaginalbereichs können bei missbrauchten Frauen extrem re-traumatisierend wirken“, schildert Laura Bräune von Wildwasser Bielefeld. Oder der Kinderwunsch – nachweislich bei Betroffenen von sexualisierter Gewalt häufig besonders ausgeprägt, &bdquo;da gerade sie sich nach einer eigenen heilen Familie sehnen, es besser machen wollen“, so Braune – wird gleich ganz unterdrückt. Das Team hilft beim Übergang in ein selbstständiges Leben Die markante Lebensumstellung, die mit der Geburt eines Kindes einhergeht, ist schon herausfordernd genug. Eltern zu werden, wenn man jedoch in der eigenen Kindheit oder Jugend sexualisierte Gewalt erfahren musste, stellt Mütter und Väter oft vor schier unlösbare Probleme. Oftmals schon vor oder während der Schwangerschaft. Das Phänomen beobachten die Mitarbeitenden von Monika Schandelle, Einrichtungsleiterin im Mathildenheim in Schildesche, immer wieder im Arbeitsalltag. Lesen Sie auch: Pädophilen-Jäger locken Bielefelder Verdächtige in umstrittene Youtube-Falle Das Mathildenheim ist eine Eltern-Kind-Wohneinrichtung, in der sich 30 Mitarbeitende, von der Hauswirtschafterin bis zur Sozialpädagogin und Kinderpflegerin, um aktuell 14 Mütter und zwei Väter zwischen 17 und 40 Jahren kümmern. 15 Kinder zwischen wenigen Monaten und sechs Jahren kommen hinzu. Die Alleinerziehenden kommen meist mit ihrem ersten Kind und bleiben zwischen wenigen Monaten und zwei Jahren in dem hellen, wohnlichen Haus, das &bdquo;In Via“ im Paderborner Diözesanverband betreibt. &bdquo;Es sind Menschen mit vielfältigen Belastungen, die Unterstützung bei der Versorgung und Erziehung ihrer Kinder benötigen“, erklärt Schandelle. Im Mathildenheim werden sie möglichst fit gemacht für einen selbstständigen Alltag mit ihren Kindern. In eigenen kleinen Wohnungen übernehmen die Elternteile zwar die grundsätzliche Versorgung. Doch das Team im Haus steht ihnen in allen Fragen zur Verfügung, leitet sie an, unterstützt. Auch zum Ende ihres Aufenthalts beim Übergang in ein eigenständiges Leben. &bdquo;Das Trauma dieser Frauen ist für uns Alltag“ Zu den Schwierigkeiten der Klienten zählen neben Arbeitslosigkeit, Drogenmissbrauch, psychischen Problemen eben immer wieder auch erlittene Gewalterfahrungen. In der oft anspannenden Gewöhnungsphase ans Muttersein treten diese Traumata häufig zutage. &bdquo;Fast alle unsere Bewohnerinnen haben Gewalt erfahren. Ihr Trauma ist für uns Alltag“, berichtet Simone Wunderlich, pädagogische Mitarbeiterin. Ihre Chefin ergänzt: &bdquo;Wir haben uns gefragt, wie bestimmte Reaktionen und Verhaltensmuster der Frauen zu interpretieren sind. Was brauchen sie in diesem Moment, wie können wir helfen? Aber auch, ob wir eine Vermutung, dass eine Mutter sexuelle Gewalt erlebt hat, ansprechen sollen oder besser nicht.“ Das könnte Sie interessieren: WHO: Drei von fünf Kindern erleben zu Hause Gewalt Mit solchen Fragen wandte sich Schandelle an die Beratungsstelle &bdquo;Wildwasser“, die seit 30 Jahren zum Thema sexualisierte Gewalt arbeitet. Und dort hatte man eine Idee parat. Mit einem präzise ausgearbeiteten Schulungskonzept für pädagogische Fachkräfte, finanziert aus Mitteln der Deutschen Fernsehlotterie, wurde im Mathildenheim über ein Jahr lang in Intervallen geschult. Auch nicht-pädagogische Mitarbeiter, wie Haus- und Küchenpersonal, kommen mit dem auf drei Jahre angelegten Projekt in Kontakt. Denn: &bdquo;Auch beim Kochen und Essen, bei der Ernährung der Kinder können alte Muster und Erinnerungen hochkommen, die einen unbefangenen Umgang behindern. Heute können unsere Mitarbeitenden Reaktionen viel besser einschätzen“, berichtet Schandelle. &bdquo;Es spart Nerven und Zeit, wenn eine Geburt nicht so eskaliert“ Aggressionen und Streit unter den Kindern, körperliche Nähe und Stillen, auch das Wickeln können Erinnerungen auslösen, die alte Muster und Gefühle wieder hochkommen lassen und die Menschen belasten. Auch die Frage, ob sich das eigene Trauma auf das Kind überträgt, treibe die Frauen um. In-Via-Vorständin Annette Lödige-Wennemaring erklärt: &bdquo;Man weiß um die transgenerationale Weitergabe von Kindheitstraumata.“ Vernetzt ist das Projekt mit einer traumasensibel arbeitenden Hebamme, die im Vorfeld einer Geburt Betroffene behutsam vorbereiten kann auf alles, was auf sie zukommt. Auch die Sorge, der Geburt und der Erziehung des Kindes nicht gerecht zu werden, könne bearbeitet werden, &bdquo;durch Gespräche und viel Vertrauen“, so Wunderlich. Das sogenannte Schweigegebot, mit dem viele Täter ihre Opfer belegten, erweise sich im späteren Leben als großes Hindernis. Um sich anzuvertrauen, den Knoten zu lösen. Oft gehe es um Kontrolle, die den Frauen zurückgegeben werden müsse. Denn Trauma bedeute Kontrollverlust. Es komme darauf an, den Frauen ihre Selbstbestimmung zurückzugeben, auch während der Geburt. &bdquo;Das Klinikpersonal ist oft sehr dankbar, wenn sie Hinweise auf den Umgang mit einer Frau erhalten“, so Wunderlich, &bdquo;zudem kostet es nicht Zeit, sondern spart Zeit, wenn die Geburt nicht eskaliert.“ Ähnlich sei es, wenn die Chance zur Bewältigung eines Traumas gegeben werde – eine gute Basis für eine gelingende Elternschaft.

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