„Kleineres Übel“ soll die Wohnungsnot in Bielefeld bekämpfen

Bielefeld. Der Brief, den Grundstücksbesitzer Carl T. (Name von der Redaktion geändert) dieser Tage vom Bielefelder Bauamt erhalten hatte, kam überraschend, denn der Schildescher hatte zuvor keinen Kontakt zur Baubehörde. Man wolle ihm im Rahmen der Nachverdichtung eine Beratung zur Bebauung seines freien Gartengrundstücks anbieten, heißt es in dem Schreiben. Was hat es mit dieser Aktion des Bauamtes auf sich? Was bedeutet Nachverdichtung für Bielefeld? Ist es sinnvoll, alle städtischen Freiflächen zu bebauen? Wir haben mit Stadtplanern, Politikern und Naturschützern über das Thema Nachverdichtung in Bielefeld gesprochen. Nachverdichtung und Baulücken sind seit Jahren wichtige Themen im Städtebau, denn es gibt zu wenig Wohnraum – auch in Bielefeld. Das Bauen in die Fläche, also am Stadtrand, solle möglichst reduziert, geeignete innerstädtische Flächen vorrangig bebaut werden, erklärt Stadtplaner Arne Steinriede vom Bauamt Bielefeld. Man wolle so den Flächenfraß am Stadtrand verringern und gleichzeitig der ansteigenden Wohnungsnot in Bielefeld etwas entgegensetzen. News direkt aufs Smartphone: Hier finden Sie den kostenlosen Whatsapp-Kanal der NW Bielefeld So wurden die freien Grundstücke in Bielefeld gefunden Das Schreiben der städtischen Behörde, das Carl T. erhalten hat, gehört zu einer Briefaktion, die aktuell für die Baulandstrategie in Bielefeld Mitte und in Schildesche durchgeführt wird. Durch die rot-grün-rote Rathauskoalition wurde das Amt angewiesen, für die städtische Nachverdichtung ein Baulandkataster über potenziell bebaubare Grundstücke zu erstellen, und im zweiten Schritt Kontakt mit den Eigentümern aufnehmen. Lesen Sie auch: Management von Leerständen – Team im Bielefelder Bauamt bietet neuen Service an Martin Enderle, Vorstandsvorsitzender des Vereins &bdquo;pro Grün“ und früherer Umweltdezernent, hält die städtische Anschreiben-Aktion für richtig und wichtig. Der Verein kartiert seit Jahren Leerstände und Freiflächen in Bielefeld und veröffentlicht diese anonymisiert auf seiner Internetseite, ohne exakte Positionen zu nennen. &bdquo;Da waren viele Spaziergänge nötig, um die Karte zu erstellen“, sagt Enderle lachend und wird Angesicht des Freiflächenpotenzials wieder ernst: &bdquo;Aktuell haben wir 314 Baulücken oder Leerstände in Bielefeld ermittelt.“ &bdquo;Zwangsinstrumente sind in einem demokratischen Rechtsstaat sehr begrenzt, und Privateigentum hat in Deutschland einen hohen Stellenwert“, versichert Arne Steinriede. &bdquo;Die allermeisten Baulücken sind in privater Hand“, ergänzt Steven Poggemöller vom Baulandmanagement der Stadt. &bdquo;Es geht uns darum, ein niederschwelliges Beratungsangebot anzubieten, über eine Bebauung einer Baulücke nachzudenken. Die Bauverwaltung versteht sich hierbei als Lotse und Ratgeber für Grundstückseigentümer, die bauen möchten.“ Nicht alle Grundstücke eigneten sich für eine Bebauung, erläutert Poggemöller: &bdquo;Wir haben zunächst geschaut, welche Grundstücke sich direkt bebauen lassen. Gibt es einen Bebauungsplan? Ist das Grundstück erschlossen, also an das Abwasser- und Leitungsnetz angeschlossen?“ Dann gebe es noch den unbeplanten Innenbereich im Stadtgebiet. &bdquo;Der darf bebaut werden, wenn es dem öffentlichen Recht nicht entgegensteht. Die Außenbereiche am Stadtrand sollten möglichst freigehalten werden.“ Wohnraummangel in Bielefeld erhöht Druck auf Baugrundstücke Der Druck auf den Boden sei angesichts des Mangels bezahlbaren Wohnraums in Bielefeld hoch. Dessen ist sich auch Wiebke Homann vom Naturschutzbund Bielefeld (NABU) bewusst. &bdquo;Gerade deswegen befürworten wir die Nachverdichtung und Aufstockung von Gebäuden innerhalb der Stadt.“ Dennoch dürften Frischluftschneisen, wie die Johannesbachaue, nicht einfach zugebaut werden. Sie seien für eine ausreichende Belüftung der Stadtgebiete extrem wichtig, erklärt die Vorstandsvorsitzende des NABU. Ähnlich sieht es auch Adalbert Niemeyer-Lüllwitz vom BUND: &bdquo;Die Nachverdichtung ist das kleinere Übel gegenüber dem Flächenfraß an den Stadträndern.“ Diese Flächen sollten erhalten bleiben, da sie für das Stadtklima immens wertvoll seien, sagt das Vorstandsmitglied der Naturschutzstiftung und nennt ein Beispiel: &bdquo;Wir haben uns zum Beispiel gegen das Neubaugebiet am Biohof Bobbert in Quelle ausgesprochen, da es sich hier um eine ökologisch wertvolle Grünfläche handelt, die es zu erhalten gilt.“ Lesen Sie auch: 60 neue Wohnungen in Neubaugebiet an Bielefelder Biohof Nicht immer könne ein erschlossenes Grundstück ohne Probleme bebaut werden, erklärt der Grünen Politiker Paul John, der das Koalitionspapier zur Nachverdichtung und dem Leerstandsmanagement 2021 mitverhandelt hat. &bdquo;Die vor zwei Jahren wieder eingeführte Baumschutzsatzung verhindert, dass Bäume deren Umfang mehr als 60 Zentimeter umfassen, ohne Antrag und Beratungsgespräch gefällt werden dürfen.“ Ziel des Gesprächs sei es, das Fällen zu verhindern und stattdessen eine andere Lösung zu finden. Auf jeden Fall müsse für einen gefällten Baum Ersatz geschaffen werden. Lesen Sie auch: Umstritten: Jetzt kommt die neue Baumschutzsatzung für Bielefeld Diese Formen der Nachverdichtung sind in Bielefeld denkbar Eine Alternative zum Neubau ist die Aufstockung von Gebäuden. Paul John nennt zwei Beispiele: &bdquo;In Dornberg haben wir am Weizenkamp, einem Wohngebiet mit Flachdachbungalows, den Bebauungsplan geändert und eine eineinhalb-geschossige Bauweise zugelassen.“ Diese Häuser können nun nachträglich aufgestockt werden. &bdquo;Am Jahnplatz wird derzeit das markante Eckgebäude der Löwenapotheke um drei Etagen aufgestockt und dadurch neuer Wohnraum geschaffen.“ Lesen Sie auch: Bielefelder Traditions-Apotheke geht – aufgestockte Glasfassade kommt Für Carl T. stellen sich all die Fragen zum Thema Nachverdichtung nicht. Er möchte sein Gartengrundstück nicht bebauen, sondern sich weiterhin an der reichhaltigen Flora und dem frischen Grün seiner Obstbäume und Sträucher erfreuen.

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