Hilfe für Männer ohne Lobby: Warum zwei Frauen Bielefelder Häftlingen helfen

Bielefeld. Sie sind Frauen, die fest im Leben stehen. Die beiden angehenden Juristinnen Michaela Gessler und Jasmin Kanbar hätten viele Möglichkeiten, sich neben der wissenschaftlichen Ausbildung an der Uni Bielefeld ehrenamtlich zu engagieren. Sie helfen aber seit Jahren Bielefelder Häftlingen und stoßen damit auf viel Unverständnis. Warum ausgerechnet Straffällige? Eines ihrer Pflichtpraktika hatte die beiden Uni-Studentinnen ins Gefängnis geführt. Während Michaela Gessler in der Jugendstrafanstalt Hövelhof erste Einblicke in das Leben von Straffälligen nehmen konnte, begann Jasmin Kanbar sogar gleich bei den schweren Jungs im geschlossenen Vollzug in Bielefeld-Brackwede. Beide Anstaltsleiter hatten die Praktikantinnen dabei auf die Herausforderungen, aber auch auf die Notwendigkeit einer gelungenen Resozialisierung hingewiesen: &bdquo;Mich hat damals der liberale und innovative Blick des Leiters auf Straffälligkeit beeindruckt“, sagt Gessler. Lesen Sie auch: Bielefelder Gefängnisdirektor: Insassen haben sich stark verändert Jasmin Kanbar wurde von dem ehemaligen Leiter der Justizvollzugsanstalt (JVA) Brackwede, Uwe Nelle-Cornelsen, dabei auf den &bdquo;Kreis 74“ hingewiesen, der inzwischen seit 50 Jahren wertvolle Arbeit in der Straffälligenhilfe leistet. &bdquo;Er selbst hat dort damals seinen Zivildienst absolviert“, erzählt Kanbar. Die Bielefelder Studentinnen kannten das oft geforderte Thema Resozialisierung nur aus der Theorie und wollten diese nun auch in der Praxis kennenlernen. Und Kanbar räumt ein: &bdquo;Anfangs war es natürlich auch der Reiz des Unbekannten. Ich wollte wissen, wie das so hinter Gittern ist.“ Erste Schritte hinter Gittern Unabhängig voneinander landen beide bei der Bielefelder Straffälligenhilfe des &bdquo;Kreises 74“ und beginnen zunächst mit dem Briefeschreiben. Sie übernehmen je einen Kontakt zu einem Inhaftierten und erhalten seitenlange Briefe, erfahren von &bdquo;ihren Häftlingen“ viel über ihren Weg auf die schiefe Bahn, weiter in die Straffälligkeit und am Ende auch in die Haft. &bdquo;Das war spannend, aber mir fehlte der menschliche, persönliche Kontakt“, sagt Kanbar. Und so taten sich die beiden Frauen nach sechs Monaten zusammen. Sie hatten sich bei der Basisschulung zum Umgang in der JVA kennen- und schätzen gelernt. Sie stellen einen Kochkurs auf die Beine und wechseln kurz darauf in ein neues Team. Begleitete Ausgänge mit Häftlingen Kanbar und Gessler entscheiden sich, regelmäßig fünf Inhaftierte bei ihren Ausgängen zu begleiten. &bdquo;Unser erster Ausgang war auf den Weihnachtsmarkt – ganz banal“, sagt die 33-jährige Doktorandin Gessler. Diese Ausgänge sollen die teilweise seit Jahren inhaftierten Männer auf das Leben nach der Haft vorbereiten. Das heißt, diese Männer sind bereits vom geschlossenen in den offenen Vollzug gewechselt, haben sich erste Lockerungen verdient. Trotzdem haben einige von ihnen &bdquo;viele Entwicklungen da draußen noch gar nicht mitbekommen“. Die JVA Senne mit 14 Hafthäusern und 1.500 Inhaftierten ist Europas größte Justizvollzugsanstalt. Mit einem Schwerpunkt für ältere Häftlinge ist auch die Altersspanne der begleiteten Häftlinge groß: &bdquo;Zwischen 25 und 70 Jahren“, schätzen die Bielefelderinnen. Lesen Sie auch: Früh gealtert: So leben die Senioren-Häftlinge im Bielefelder Gefängnis Gessler erläutert: &bdquo;Unsere Reise in die Stadt beginnt immer mit Bus und Bahn.“ Bei den Ausgängen geht es um ganz alltägliche Dinge. &bdquo;Wie kaufe ich mir ein Ticket, manche haben noch nie einen Touchscreen gesehen. Die suchen vergeblich nach Knöpfen.“ Das Ziel dieser Ausgänge sei es, eine Überforderung zu vermeiden, wenn der Tag X gekommen ist – wenn der Häftling plötzlich wieder alleine in Freiheit klarkommen muss. Viel Unverständnis bei Bekannten und Freunden Die Reaktionen auf das ehrenamtliche Engagement der beiden Frauen sind zweigeteilt. Da sind sich beide einig. &bdquo;Die eine Hälfte findet es gut, geht aber erkennbar auf Distanz. Die können sich das für sich selbst nicht vorstellen“, berichtet Gessler. &bdquo;Die andere Hälfte lehnt diese Arbeit komplett ab.“ Manche fragten die Ehrenamtlichen: &bdquo;Wie kann man denn nur Straffälligen helfen?“ Gessler und Kanbar glauben, dass jeder Fehler begehe und wer für seine Fehler gebüßt habe, der habe eine zweite oder dritte Chance verdient. &bdquo;Ich gebe dann immer zu bedenken: Was würdest du machen, wenn dein Bruder das wäre und er käme aus dem Knast raus. Lässt du denn dann hängen? Das verstehen die meisten.“ Die beiden Ehrenamtlichen springen quasi für Familie und Freunde ein, weil eben doch viele Häftlinge sehr weit weg von ihrer Familie eingesperrt sind. Für die sind regelmäßige Besuche und Ausgänge oft nicht leicht. Was sagen die Opfer der Straftaten? Oft werden Menschen in der Straffälligenhilfe mit der Sicht der Opfer konfrontiert: &bdquo;Was würde das Opfer jetzt sagen, wenn es erfährt, dass du dem Täter auch noch hilfst?“ Diese Frage kennen beide gut. Jasmin Kanbar betont: &bdquo;Wenn man diese Menschen links liegen lässt, hat alles nichts genützt.“ Sie in ein sicheres und besseres Leben zu entlassen, weg von falschen Freunden, ohne Überforderung, und damit mit weniger Rückfallrisiko, sei auch ein Stück Opferschutz. &bdquo;Wir vergessen die Opfer dabei nie.“ Welche Bedeutung haben die Taten Wer mit Straffälligen zu tun hat, wird schnell auch mit den Taten der Häftlinge konfrontiert. Manche sprechen nie darüber, andere fallen damit aber auch ins Haus. &bdquo;Ich spreche sie nie drauf an. Aber zwischendurch bei den Gesprächen erfahren wir sehr viel.“ Ein Häftling, den beide begleitet hatten, hatte 15 Jahre in Haft verbracht. Direkt nach seiner ersten Entlassung soll er wieder jemanden getötet haben, berichtet Kanbar. &bdquo;Das ist nicht ohne“, stimmt Gessler zu. &bdquo;Auch wenn ich keine Angst habe, weil es sich um eine Beziehungstat mit Vorgeschichte handelte, bewegt mich das.“ Lesen Sie auch: Besuch in der JVA Senne: Wo Gefangene zu Nachbarn werden Was ist, wenn einer abhaut? Wer aus dem offenen Vollzug entweichen möchte, der hat dafür viele Möglichkeiten. &bdquo;Er riskiert damit aber auch den Verlust aller Lockerungen. Vielleicht sogar die Rückkehr in den geschlossenen Vollzug“, sagt Gessler. &bdquo;Deshalb habe ich davor keine Angst.“ Seit Winter 2017 begleiten die beiden Stundentinnen Häftlinge in die Stadt – zur Sparrenburg, zum Weihnachtsmarkt, zum Minigolf, zum gemeinsamen Döner-Essen oder, besonders beliebt, zum Schaufenster-Shopping. &bdquo;Noch nie ist einer abgehauen. Wir haben einen Häftling mal im Gedränge des Weihnachtsmarktes verloren. Der hatte aber mehr Panik als wir.“ Er sei überglücklich gewesen, als er seine Gruppe wiedergefunden hatte. Wie erfüllend ist diese Hilfe? &bdquo;Für mich ist das alles ein sehr wichtiger Blick auf die Seite der Straffälligkeit. Das hat mir auch für meinen eigenen Berufsweg die Augen geöffnet“, sagt die 31-jährige Jasmin Kanbar. Richtig toll sei es, wenn eine Geschichte richtig gut ausgehe. Denn &bdquo;Resozialisierung gelingt in Deutschland immer noch nicht gut“. Die Ex-Häftlinge hätten große Probleme bei der Suche nach einer Wohnung und einem Arbeitsplatz. Damit das besser gelingt, ist der &bdquo;Kreis 74“ auch mit professionellen Angeboten dabei. Die beiden Begleiterinnen kriegen das oft dann nebenbei mit. Einen Häftling hatten sie immer wieder in ihrer 5er-Gruppe. Bestimmt zehn Ausgänge hätten sie mit ihm gemacht. &bdquo;Inzwischen ist er seit zwei Jahren draußen, hat sich komplett von seinem Milieu gelöst und ist total dankbar, dass der ’Kreis 74’ ihm so gut weitergeholfen hat. Er berichtet uns immer weiter, wie sein Werdegang weitergeht, neue Jobs, neue Entwicklungen.“ Ein anderer habe sie nach der Entlassung mit einem Essen bedankt, wieder ein anderer habe ihnen Datteln mitgebracht, weil die Bielefelderinnen mal erwähnt hatten, dass sie diese so gerne essen. &bdquo;Es zeigt, wie dankbar die Männer sind und es zeigt, wie wertvoll diese Hilfe ist. Diese Männer sind auf einem guten Weg.“ Nicht allen gelingt das. Die Bielefelder Straffälligenhilfe &bdquo;Kreis 74“ Die Bielefelder Straffälligenhilfe &bdquo;Kreis 74“ feiert in diesem Jahr 50-jähriges Bestehen. Sie bietet eine Beratungsstelle für Straffällige und ihre Angehörigen, betreibt Wohnprojekte für Entlassene, begleitet mit der Tochter &bdquo;Brücke Bielefeld“ gerichtliche Weisungen (Arbeitsauflagen, Betreuung, pädagogische Kurse und Täter-Opfer-Ausgleich) und bietet Möglichkeiten für ehrenamtliches Engagement: &bdquo;Wir suchen ständige neue Leute für begleitete Ausgänge“, betont Gessler. Interessierte müssen über 21 Jahre alt sein und dürfen weder auf Bewährung sein, noch in der Vergangenheit Straftaten begangen haben. Nach einer Basisschulung geht es oft schnell los.

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