Bielefeld-Schildesche. Es sollte ein romantisches Date werden. Der 23-jährige Ersin P. (alle Namen geändert) wollte eigentlich nur eine junge Frau treffen, wollte sie mit seinem BMW beeindrucken und mit seinem Charme für sich gewinnen. Doch die 17-Jährige, die Ersin P. am 21. Dezember 2006 unter dem Schildescher Viadukt traf, war nur zum Schein auf seine Avancen eingegangen. Der 23-Jährige starb noch an diesem Abend an den Folgen von vier Messerstichen.
Das Besondere: Der Hinterhalt, in den der junge Bielefelder an jenem Abend gelockt worden war, war von zwei Frauen ersonnen worden. Zu dieser Überzeugung kam das Landgericht Bielefeld am Ende eines langen Verfahrens im September 2007.
Der Bielefelder Oberseemord - alle Fakten im Überblick
- Der 23-jährige Ersin P. möchte am 21. Dezember 2006 am Schildescher Obersee eine 17-jährige Frau treffen und diese mit seinem Charme von sich überzeugen. Doch das vermeintliche Date endet für ihn tödlich.
- Die Schwester (Dilara, 30) und die Mutter (Yelda, 44) der 17-Jährigen planen einen Hinterhalt gegen Ersin P., weil dieser laut ihrer Aussagen eine weitere Schwester (19) der 17-Jährigen vergewaltigt haben soll. Das stellt sich später als Lüge heraus.
- Die Familie engagiert zwei Bekannte - Ardan D. und Suad M. - und stattet sie mit Messer und Schreckschusspistole aus. Sie sitzen gemeinsam mit der Mutter und der 30-jährigen Tochter in einem Auto auf dem Parkplatz am Obersee und beobachten das Geschehen.
- Der Plan: Die beiden Bekannten sollen Ersin P. eine ordentliche Abreibung verpassen. Auch Mutter und Tochter schlagen auf Ersin P. ein. Doch die Situation eskaliert. Im Tumult wird er mit vier Messerstichen erstochen. Die Täter flüchten und lassen ihn an Ort und Stelle verbluten.
- Alle Personen, die in den Plan involviert sind, erhalten Haftstrafen. Die längsten Strafen gibt es für die Mutter und die älteste Tochter, die als Drahtzieherinnen ausgemacht werden. Die Mutter wird aus Deutschland ausgewiesen.
Bielefelder Oberseemord: Die Tochter eingesperrt und geschlagen

In der neuesten Folge von „Ostwestfälle“, dem True-Crime-Podcast der Neuen Wesfälischen, unterhalten sich Birgitt Gottwald und NW-Redakteur Jens Reichenbach über die Hintergründe und die Lügen, die in diesem Fall wesentliche Bedeutung hatten.
Denn Yelda T., die Mutter der 17-Jährigen, vertrat damals die Meinung, Ersin P. habe in der Vergangenheit eine andere ihrer Töchter (19) vergewaltigt. Im Gerichtsverfahren stellte sich das als gelogen heraus. Die 19-jährige hatte zuvor eine geheime Beziehung zu Ersin P. geführt. Als diese Beziehung bekannt wurde, kam es zu ernsten Problemen innerhalb der Familie. Die alleinerziehende Mutter soll ihre Tochter eingesperrt und geschlagen haben. Später flüchtete die junge Frau ins Ruhrgebiet. Das heißt, Yelda T. und ihre älteste Tochter Dilara (30) betrieben anschließend einen Rachefeldzug für eine Tat, die nie geschehen war.
Die Bielefelderin befürchtete Widerstand und steckte Ardan D. ein Messer zu
Um ihren Plan umzusetzen, hatten die Mutter (44) und die 30-jährige Tochter noch zwei Bekannte für sich gewonnen: Ardan D. aus Hamm und Suad M. aus Bielefeld. Beide waren an jenem Abend zu ihnen gekommen, um dem vermeintlichen Vergewaltiger am Obersee eine gehörige Abreibung zu verpassen. Zusammen mit Mutter und Tochter saßen sie in einem anderen Wagen auf dem Obersee-Parkplatz und hörten bei dem Date im BMW mit. Denn die 17-Jährige übertrug alles mit ihrem Handy. Weil Dilara befürchtete, Ersin P. könne seinerseits Freunde in der Nähe haben, hatte sie Ardan D. noch ein Messer zugesteckt. Suad M. hatte eine Schreckschusspistole bei sich.
Genau diese Waffen führten dann im Tumult zu der tödlichen Eskalation. Als der Lockvogel, die 17-jährige Tochter, das Date im BMW abbrach, kamen die vier Mithörer aus ihrem Wagen und gingen nun unter anderem mit einer Eisenstange auf Ersin P. los. Es hagelte Tritte und Schläge. Suad schoss mit seiner Gaspistole auf das Opfer, das sich in größter Lebensgefahr wähnte.
Oberseemord: Ein Stich traf das Herz des jungen Bielefelders
Dem 23-Jährigen gelang es in dieser Situation, Ardan D. mit zu Boden zu reißen. Weil dieser sich nun seinerseits gefährdet fühlte, zog er das ihm überlassene Messer und stach vier Mal auf Brust und Bauch des Bielefelders ein. Einer der Stiche traf das Herz des 23-Jährigen. Die Angreifer flüchteten und ließen den jungen Mann tödlich verletzt auf dem Parkplatz liegen.
Die Ermittlungen der wenig später eingerichteten Mordkommission führten schnell zu der Familie der 44-jährigen Mutter jesidischen Glaubens. Die zum Teil bis heute noch vorhandenen archaisch-patriarchalischen Wertvorstellungen in manchen Familien jesidischen Glaubens spielten auch in diesem Fall eine wesentliche Rolle, wie im späteren Gerichtsverfahren klar wurde.
Die strikten Regeln des konservativen Jesidentums
Weil die Jesiden in ihrem Siedlungsgebiet (Südosttürkei/Nordirak/Nordsyrien) seit Jahrtausenden Opfer von Vertreibung und von der Ausrottung bedroht waren, hatte Scheich Adi vor etwa 1.000 Jahren bestimmt, dass Jesiden nur innerhalb der eigenen Glaubensgemeinschaft heiraten dürfen - um diese Gemeinschaft zu schützen und aufrechtzuerhalten. Eine Beziehung einer jungen jesidischen Frau zu einem muslimischen Türken war möglicherweise also auch ein ernstes Problem innerhalb der Gemeinschaft.
Das Irritierende: Weder Mutter Yelda T. noch die als „Chefplanerin“ des Geschehens bezeichnete Tochter Dilara (30) hätten ihrerseits die strengen Regeln und Gesetze des konservativen Jesidentums eingehalten. Nach außen hin hätten sie zwar den hohen Wert der Jungfräulichkeit der Töchter und Schwestern vertreten, selbst aber die archaischen Regeln gebrochen. Das hatte der damalige Vorsitzende Richter des Prozesses, Reinhard Kollmeyer, in seiner Urteilsbegründung betont.
Aufrichtige Reue habe das Gericht damals nur in der Einlassung des eigentlichen Täters erkennen können. Diese Einlassung war schließlich auch der Grund dafür, dass die Richter vom Vorwurf des heimtückischen Mordes abrückten. Das hatte damit zu tun, dass Ardan D. erst das Messer zückte, als er sich bereits am Boden im Kampf mit Ersin P. befand. Das Mordmerkmal Heimtücke war daher nicht mehr aufrecht zu erhalten.
Oberseemord: Die beiden Antreiberinnen aus Bielefeld erhalten die höchsten Haftstsrafen
Ardan D. wurde deshalb am 10. September 2007 wegen Totschlags zu sechs Jahren und neun Monaten Haft verurteilt. Die beiden „Antreiberinnen des Geschehens“, so bezeichnete Kollmeyer Mutter Yelda und Tochter Dilara T., wurden zwar nur wegen „Körperverletzung mit Todesfolge“ sowie wegen „versuchten Totschlags durch Unterlassen“ (sie hatten das Opfer blutend am Obersee zurückgelassen, ohne Hilfe zu rufen) verurteilt, erhielten dafür aber höhere Haftstrafen.
Die Mutter wurde zu sieben Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, ihre älteste Tochter sogar zu neun Jahren und sechs Monaten. Pistolenschütze Suad M. und der Lockvogel, das 17-jährige Mädchen, erhielten Jugendhaftstrafen von vier Jahren und drei Monaten sowie drei Jahren und neun Monaten.

Oberseemord: Der 17-jährige Lockvogel machte „aus Angst“ vor der eigenen Familie mit
Dass die Mutter zuvor beschlossen hatte, die 17-Jährige solle die Tat allein auf sich nehmen, weil sie als Minderjährige die geringste Strafe zu erwarten habe, nannte Kollmeyer „schändlich“. Als die 17-Jährige auf der Flucht direkt nach der Tat erfuhr, dass Ardan D. sogar mit einem Messer zugestochen hatte, wollte sie, dass die Gruppe noch den Rettungswagen ruft. Doch die anderen hätten sie nur ausgelacht. So hatte sie es später einer Sozialarbeiterin gestanden.
Warum hatte die 17-Jährige überhaupt mitgemacht? „Aus Angst vor der eigenen Familie“, so hatte sie es der Sozialarbeiterin damals geschildert. Auch sie war von der Mutter geschlagen und eingesperrt worden.
Ausweisung der Mutter in die Türkei ist rechtens
Die Mutter klagte später gegen ihre Ausweisungsverfügung in die Türkei. Ausländische Straftäter, die zu mehr als drei Jahren Haft verurteilt wurden, können vom Deutschen Staat ausgewiesen werden. Das hatte in diesem Fall auch das Ausländeramt in Bielefeld verfügt. Dies geschieht meist, nachdem die Täter zwei Drittel (manchmal auch die Hälfte) der Haft abgesessen hatten. Das zuständige Verwaltungsgericht wies 2009 die Klage der türkischen Jesidin ab.