Warum Schule laut dieser Bielefelder Expertin so nicht mehr funktioniert

Schule wie sie aktuell funktioniert sei nicht lebensnah, kritisieren immer mehr Schulleiter, Lehrer, Eltern und Schüler. Es fehlt längst nicht nur an Personal und Räumen, oder? Michaela Vogt: Definitiv nicht. Wobei es daran natürlich auch mangelt. Aber wir stecken tatsächlich in einer massiven Bildungskrise. Sind die Fächer, die auf dem Stundenplan stehen, noch die Richtigen? Und die Inhalte, die vermittelt werden? Was müssen junge Menschen lernen, um gut auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts vorbereitet zu sein? Diese Fragen müssen wir uns dringend stellen. Ein Grundverständnis in Mathematik gehört dazu, ebenso Lesen und Schreiben. Aber muss ich den Taschenrechner noch bis ins Detail bedienen können? Oder macht das Siri für uns? Wie wichtig ist eine schöne Handschrift noch, wenn ich ohnehin fast nur noch am Computer schreibe? Hier die Balance zu finden zwischen kulturellem Bildungsgut und den aktuellen Herausforderungen ist die Kunst. Und es ist für Schüler ganz wichtig, kompetent mit sich selbst umgehen zu können, ein kulturelles Bewusstsein zu entwickeln. Das kommt derzeit viel zu kurz.. Aus bildungshistorischer Perspektive sprechen Sie sogar von einer notwendigen &bdquo;Schulrevolution“. Was genau meinen Sie damit? Die Bildungskatastrophe wurde bereits 1964 von Picht ausgerufen. Fehlende Chancengleichheit, Lehrermangel, Unterfinanzierung und Kritik am viel zu frühen Wechsel nach der vierten Klasse in ein dreigliederiges Schulsystem waren damals schon Themen, und sind bis heute nicht gelöst. Es gab Schulversuche, wie hier die Laborschule und das Oberstufenkolleg. Wir beobachten da eine generelle Reformresistenz von Schule, weil jede Umstellung erst einmal auch mit Schwierigkeiten verbunden ist. Das wiederum beeinflusst politisch Entscheidungen: Vor den Wahlen will keiner Ärger - und zieht neue Ansätze dann lieber nicht weiter durch. Hinzu kommen neue Herausforderungen: durch Inklusion, die Nachwirkungen der Corona-Pandemie und die Destabilisierung des sozialen Gesamtgefüges, wie durch Klimakrise oder die aktuellen Kriege. Da reicht es nicht, einfach zusätzlich Geld in ein System zu geben, das so nicht mehr funktioniert. Und auch bei der Digitalisierung hat sich trotz Schwung in der Coronazeit im Vergleich zu anderen Ländern in Deutschland erschreckend wenig verändert. Was können wir tun, damit sich wirklich etwas ändert?, fragen viele engagierte Lehrer. Was raten Sie da? Nicht falsch verstehen, aber viele Lehrer sind einfach zu gutmütig. Sie versuchen immer, die Defizite irgendwie zu kompensieren. Oft auf eigene Kosten, bis hin zum Burn-out. In der Konsequenz verhindern sie letztlich aber so, wenn auch ungewollt, eine echte Bildungsrevolution, quasi als Initialzündung für ernsthafte Reformen. Auch ein wichtiges Thema ist die Lehrerausbildung. Die müsste noch breiter aufgestellt sein, mit viel mehrschulsystemischem Wissen wie zum Beispiel über Schulrecht und Leadership. Und internationaler sollte sie sein, mit einem verpflichtenden Auslandspraktikum. Das hilft, Visionen zu entwickeln und zu schauen, an welche guten Beispiele man anknüpfen und wie man sie auf unser Schulsystem transferieren kann. Viele fordern ein Fach zum Thema Digitalisierung, das es bislang noch nicht gibt - gerade auch mit Blick auf die Herausforderungen von KI. Sehen Sie das auch so? Aus meiner Sicht wäre es noch viel sinnvoller, die neuen Möglichkeiten und Medien konsequent in allen Fächern mit in den Unterricht zu integrieren. Zudem ist gutes, aktuelles Unterrichtsmaterial ganz wesentlich für die Vermittlung von Bildung, und immer auch ein Spiegelbild der Gesellschaft. Bildung wiederum ist nicht nur Fachwissen. Auch Persönlichkeitsentwicklung gehört hier mit dazu: seine eigene Rolle als verantwortungsbewusstes Mitglied der Gesellschaft zu definieren und zu reflektieren. Schnelle Glücksgefühle, wie sie die bei vielen Schülern angesagte App TikTok generiert, sind Gift fürs Lernen und die Leistungsbereitschaft: Was Studien nachweisen, erleben Bielefelder Schulen jeden Tag in Form von überdurchschnittlich viele schlechte Leistungen bei Schülern, die es definitiv besser könnten. Was kann Schule da tun? Zu skandalisieren, KI oder Apps wie TikTok als etwas Schlechtes abzustempeln, ist da nicht hilfreich. Vielmehr sollten Lehrkräfte die Schüler darin unterstützen, die Angebote kritisch zu hinterfragen und schauen, was wo wirklich hilfreich ist. Viele Eltern neigen dazu, ihre Kinder sehr stark behüten zu wollen. Nicht beschützen, sondern kompetent machen, ist aber die Devise. Kinder müssen lernen, Konflikte zu verhandeln und dürfen keine Angst davor haben, sich auszuprobieren. Die Eigenverantwortung zu stärken hilft Schülern auch dabei, sich trotz aller Schwierigkeiten zu konstruktiven Gestaltern ihres eigenen Selbst wie ihrer Umwelt zu entwickeln. Schule ist leider oft sehr defizitorientiert, bemängeln viele. Ist das auch etwas, das sich dringend ändern muss? Auf jeden Fall. Die Aufgabe der Lehrer und Erzieher ist es, den Kindern ein konstruktives Feedback zu geben und ihnen zu zeigen, wie sie Dinge besser machen können - immer mit positiver Entwicklungsperspektive. Wertschätzung ist dabei ganz wichtig. Eine blanke Fünf unter dem Vokabeltest zu schreiben, bei dem der Schüler alle Wörter gewusst, nur nicht ganz korrekt geschrieben hat, ist destruktiv und pädagogisch absolut nicht wertvoll. Förderung erfolgt durch konstruktives und wertschätzendes Feedback. In anderen Ländern wird in der Schule beim Lernen von Fremdsprachen ohnehin viel mehr auf die kommunikativen Fähigkeiten gelegt. Wichtiger im Leben ist es doch, miteinander sprechen zu können, anstatt gehemmt zu sein, weil man Angst hat, dass es grammatikalisch vielleicht nicht ganz korrekt ist, was man sagt. &bdquo;Alles Mist, so wie es in der Schule ist“ ist aber trotzdem definitiv die falsche Botschaft. Was sagen Sie Ihren Jungs, wenn sie über den Unterricht oder Lehrer meckern? Sie meckern zum Glück sehr wenig. Aber wenn es doch einmal vorkommen sollte, versuche ich sie auch für die Perspektive der Lehrer zu sensibilisieren. Und ich ermutige sie, ihnen gegenüber ihre Kritik konstruktiv zu äußern. Damit man gemeinsam Unterricht weiterentwickeln kann. Eine gute Lehrkraft macht auf keinen Fall immer alles richtig, sie ist aber offen für Veränderung und Verbesserung. In einer sich fortwährend verändernden Schule lernen nicht Schüler von ihren Lehrkräften, sondern ebenso die Lehrkräfte von ihrer Klasse – und das basierend auf gegenseitigem Verständnis und gegenseitiger Wertschätzung. Zur Person Michaela Vogt ist seit 2017 Professorin für Komparatistische Schulforschung, Theorie und Geschichte der Inklusiven Pädagogik an der Uni Bielefeld. Die 40-Jährige ist in Hessen geboren, in einer bayrischen Kleinstadt aufgewachsen, und hat in Würzburg Erziehungswissenschaften und Lehramt studiert. Vogt ist für die Uni Bielefeld international unterwegs, wie kürzlich in Indien, Singapur und China. Ab Februar lehrt und forscht sie im Rahmen einer Gastprofessur zwei Monate lang an der Canterbury University in Neuseeland. Ihre drei Söhne (2, 10 und 12) nimmt sie dorthin mit. .

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