"Die Not ist richtig, richtig groß": Bielefelder Jugendhilfe droht der Kollaps

Bielefeld. In Obhut genommene Kinder müssen bis an die holländische Grenze gebracht werden, um kurzfristig unterzukommen. Um für einen Jungen einen Wohnplatz zu finden, haben Anke Berkemeyer und ihr Team im Jugendamt der Stadt gerade bei 80 Einrichtungen herumtelefoniert – ohne Erfolg. Im Mai hat die Stadt obendrein eine ihrer Kriseneinrichtungen schließen müssen. &bdquo;Die Lage in der Jugendhilfe ist besorgniserregend“, sagt Berkemeyer. Es droht der Notstand. Dafür gibt es vor allem drei Gründe. Berkemeyer ist Leiterin der Abteilung Erzieherische Hilfen im Bielefelder Jugendamt, eine erfahrene Mitarbeiterin der Jugendhilfe, die es gewohnt ist, Krisensituationen zu managen. Doch die jüngsten Entwicklungen machen sie ratlos. &bdquo;Unser großes Problem ist, dass der Fachkräftemangel überall durchschlägt und unsere Strukturen in Gefahr geraten“, erklärt sie. &bdquo;Das hat sich seit Herbst 2022 plötzlich zugespitzt. Bis dahin ging es immer irgendwie.“ Auch das städtische Mädchenwohnheim auf dem Halhof – eine Kriseneinrichtung für in Obhut genommene Kinder – musste schließen, weil Personal fehlte. Im Jugendamt seien zudem aus demselben Grund Sprechstunden und Beratungsangebote reduziert worden, erzählt Berkemeyer. Für Betroffene in schwierigen Lebenssituationen bedeute das länger Wartezeiten. Auch Planungsgespräche mit Einrichtungen der Jugendhilfe wurden zurückgefahren. &bdquo;Die Qualität unserer Arbeit leidet. Das Schlimme ist, dass die Unterstützung dort fehlt, wo Probleme gerade erste entstehen und Betroffene frühzeitig aufgefangen und beraten werden müssten. Die Not ist richtig, richtig groß.“ Eine &bdquo;Notschlafstelle“ soll schwierige Jugendliche in Bielefeld schützen und die Einrichtungen entlasten Weil zudem andere Träger und Vereine in der Erziehungshilfe, mit denen die Stadt kooperiert, vor denselben Problemen stehen, spitzt sich die Lage zu. Das bestätigt Sozialdezernent Ingo Nürnberger: &bdquo;Unser Hauptproblem ist, das kaum noch freie Unterbringungsplätze zur Verfügung stehen.“ Zwei weitere Faktoren erhöhen den Druck auf die Kinder- und Jugendhilfe. &bdquo;Wir haben zum einen immer mehr minderjährige Kinder mit stark herausforderndem Verhalten, die in der frühen Kindheit Traumatisierungen durch Vernachlässigung, Misshandlung oder Missbrauch erfahren haben“, erklärt Berkemeyer. Diese sogenannten &bdquo;Systemsprenger“ könnten kaum dauerhaft in festen Wohnsituationen untergebracht werden und müssten immer wieder neu versorgt werden. &bdquo;Dieser Drehtüreffekt ist extrem zeitaufwendig.“ 15 bis 20 solcher Jugendlichen versorgt das Amt aktuell. Und: In Wohneinrichtungen führe der Versuch, diese Zielgruppe zu betreuen, &bdquo;zu langfristigen Erkrankungen und Kündigungen der Mitarbeitenden“, berichtete das Jugendamt zuletzt im Jugendhilfeausschuss. Nürnberger hat angestoßen, eine &bdquo;Notschlafstelle“ als niederschwelliges Unterstützungsangebot für Jugendliche ab 14 Jahren einzurichten, die sich anderen Hilfsformen verweigern. Viele sind laut Jugendamt wohnungslos und neigen zu extremem Verhalten bis hin zu Gewaltausbrüchen. Ein Träger wird bereits gesucht. &bdquo;Damit schützen wir die Jugendlichen, die keine weitergehende Hilfe annehmen, entlasten aber auch Jugendamt und Träger“, erklärt der Sozialdezernent. Es kommen wieder mehr unbegleitete Jugendliche auf der Flucht nach Bielefeld Als weiteren belastenden Faktor für die Jugendhilfe nennt Berkemeyer die zuletzt wieder steigende Zahl unbegleiteter Minderjähriger mit Flüchtlingshintergrund. So sei der Anstieg bei den Inobhutnahmen in Bielefeld zwischen den Jahren 2021 (232 Fälle) und 2022 (382 Fälle) mit der Aufnahme ukrainischer Heimkinder zu erklären. &bdquo;Aktuell sind es mehr unbegleitete Jugendliche aus Afghanistan und Syrien, die bei uns ankommen. Das zieht wieder richtig an.“ Den letzten freien Platz von 30 Plätzen für akute Inobhutnahmen hat Berkemeyer gerade belegen müssen. Wie ist ein Kollaps noch zu verhindern? &bdquo;Wir brauchen mehr Unterstützung von Land und Bund: Mehr Geld für Kitas und Schulen, um Kinder und Jugendliche und deren Familien präventiv besser stützen zu können“, sagt Nürnberger. Die Kommunen müssten zudem so finanziert werden, dass soziale Arbeit gute Rahmenbedingungen bieten könne – &bdquo;bei den Entgelten und bei den Personalschlüsseln“. Mehr Ausbildung und neue Arbeitszeitmodelle seien wichtig, sagt Berkemeyer. Sie betont, die Jobs in der Jugendhilfe seien sehr erfüllend. Doch die dazu gehörenden Belastungen dürften die Mitarbeiter nicht an ihre Grenzen bringen. &bdquo;Auch Fachkräfte brauchen eine Auszeit.“

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