Bielefelder Experte warnt vor Entwicklung: Erst Schulabbrecher und dann kriminell?

Herr Koyun, die Stadt kämpft mit einer sprunghaft angestiegenen Zahl von Straftaten, die Kinder oder Jugendliche begehen. Sie klauen, dealen, drohen mit Messern oder schlagen ihre Opfer zusammen. Sie sehe Zusammenhänge zwischen Schulabbrechern und Kriminalität, sagte kürzlich die Bielefelder Polizeipräsidentin Sandra Müller-Steinhauer im Gespräch mit der NW. Eine aktuelle Bertelsmann-Studie belegt eine negative Entwicklung. Um genau solche jungen Menschen hier in Bielefeld kümmern Sie sich. Was läuft schief? Mahmut Koyun: Vorab: Ja, es sind viele Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund unter den Schulabbrechern. Es wundert mich und regt mich auch auf, dass die Polizeipräsidentin, nicht die Stadt oder die Politik da Alarm schlägt. Integration ist doch in erster Linie ein politisches Thema, entsprechende sozialwissenschaftliche Studienergebnisse sind seit längerem bekannt. Vielen Kindern und Jugendlichen fehlen Orientierung und Perspektive, das hat sich durch die Einschränkungen in der Coronazeit noch einmal zugespitzt. Die Zahlen sind immer weiter gestiegen, die Hilfsangebote kommen nicht mehr hinterher. Was müsste denn aus Ihrer Sicht getan werden, damit sich das verbessert und die jungen Menschen nicht auf die schiefe Bahn geraten? Vieles. Es darf nicht sein, dass beispielsweise ein junger, minderjähriger Flüchtling, der in einer Wohngruppe untergebracht ist, wochen- oder gar monatelang gar nichts machen darf, weder zur Schule gehen noch irgendwo arbeiten, weil das Asylverfahren noch nicht eröffnet ist oder noch nicht klar ist, ob er in der Kommune bleibt. Dann wird ein Tag ganz schnell ganz lang, und Frust baut sich auf. Irgendwann hauen diese jungen Menschen dann ab, tun sich zusammen, und oft endet das dann in Straftaten wie Beschaffungsdelikten. Ihnen fehlen Orientierung und Perspektive, und dann kommen sie auf solche Sachen. Viele dürfen aber doch in die Schule gehen, brechen sie allerdings dann ab – und werden im schlimmsten Fall auch straffällig. Mit 7,7 Prozent lag die Quote der Schulabbrecher hier in Bielefeld laut aktueller Bertelsmann-Studie über dem Bundesdurchschnitt (6,2 Prozent). Was ist mit diesen Jugendlichen? Fatal ist das auch für den Arbeitsmarkt. Dort fehlen die Kräfte, aber ohne Abschluss ist der Einstieg schwer. Stellen bleiben unbesetzt, der Mangel an Fachkräften verschärft sich. Die Bertelsmann-Stiftung macht für den negativen Trend die mangelnde Integration von Jugendlichen mit niedriger Schulbildung verantwortlich. Die Stadt und die Betriebe müssten da an einem Strang ziehen, den fast immer auch sozial benachteiligten Jugendlichen eine Chance geben, Schnupperkurse oder auch Ferienjobs ermöglichen. Ich kenne viele Schüler, die gerne arbeiten und sich so etwas Geld verdienen würden, aber Schwierigkeiten haben, etwas zu finden. Es ist schade, wenn die Ressourcen nicht genutzt werden. Auch Sie selbst hatten keinen einfachen Start: Sie sind als 13-jähriges, jesidisches Flüchtlingskind aus der Türkei nach Bielefeld gekommen, konnten die Sprache nicht. Dennoch haben Sie nicht aufgegeben, haben Abitur gemacht, studiert und promoviert. Was hat Ihnen dabei geholfen? Meine Lehrer hier in Baumheide, die mir nach der Schule bei den Hausaufgaben geholfen haben. Engagierte Nachbarn, die mit mir deutsch gesprochen haben, meine Fußballtrainer, die mir klargemacht haben, wie wichtig Bildung für meine Zukunft ist. Ich merkte: Mit jedem neu gelernten Wort wurde es einfacher, ich bekam Anerkennung und Respekt. Es ist ganz wichtig, dass wir Kindern, nicht nur neu zugewanderten, den Wert klarmachen. Viele Eltern können die schulische Entwicklung ihrer Kinder nicht fördern, Schule ist oft starr und fordert viel selbstständiges Arbeiten. Nicht wenige Kinder sind von der Flucht traumatisiert. Schule kann das oftmals gar nicht alles auffangen und leisten, da fehlt ja ohnehin schon Personal. Aber es gibt externe Träger, die unterstützen können. Dafür muss die Kommune allerdings Geld bereitstellen. Aber das wäre auf jeden Fall eine Investition, die sich auszahlt. Es werde schon eine Menge für Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund getan, die Schulsozialarbeit wurde gerade nochmal aufgestockt. Sie fühlten sich aber oft sehr schnell benachteiligt und seien nicht immer bereit, gewisse Spielregeln hier in Deutschland zu respektieren: Was sagen Sie zu kritischen Stimmen wie diesen? Ich kann verstehen, dass die Gesellschaft enttäuscht ist und kein Verständnis dafür hat, wenn in einigen Familien noch sehr patriarchalische Rollenbilder herrschen und sie sich verschließen. Aber wir dürfen uns nicht abwenden, dürfen auch diese Kinder nicht aufgeben. Das Thema Eigenverantwortung, seine Chance zu sehen und zu ergreifen, ist auf jeden Fall wichtig. Aber auch Verständnis für die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe. Immer noch fühlen sich viele Kinder nicht richtig anerkannt, und schnell verhärten sich die Fronten in der Schule. Da muss sich noch eine Menge tun, auch in Bezug auf die pädagogischen Konzepte. Und die Zusammenarbeit mit den Eltern ist ganz wichtig. Aber eben nicht starr von oben herab, sondern auf Augenhöhe. Zur Person Mahmut Koyun (50) kam als 13-jähriger, jesidischer Flüchtling aus der Türkei nach Bielefeld. Er ist verheiratet und lebt in Baumheide. Er hat fünf, zum Teil schon erwachsene Kinder. Koyun studierte an der Universität Bielefeld Sozialpädagogik und Erziehungswissenschaften und promovierte. Seit 2003 ist er selbstständig und betreut im Auftrag des Jugendamtes mit einem siebenköpfigen, multikulturellen Fachkräfteteam Kinder und Jugendliche mit Schulproblemen und ihre Familien.

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