Bielefelderin lebt ohne Magen - wie ist das möglich?

Bielefeld. Geht das überhaupt, ohne Magen zu leben? "Sehr gut sogar", sagt Ruth Horstmann. Und ist, wenn sie strahlend, dezent geschminkt und in leuchtend-orangefarbener Sportjacke den Besuch vorm Haus begrüßt, der beste Beweis dafür. Sicher, auch sie habe einiges mitgemacht, als nach einer plötzlichen Krebsdiagnose das lebenswichtige Organ komplett entfernt werden musste. Aber vieles sei eben auch gut gelaufen. Wie die Operation und Betreuung im Klinikum Mitte. Das müsse auch einmal gesagt werden. "Man hört ja sonst immer eher Negatives und von Fällen, bei denen etwas schiefgelaufen ist", ergänzt die 84-jährige, die selbst als Krankenschwester gearbeitet hat. Zu jeder Mahlzeit spezielle Medikamente Auch essen könne und dürfe sie weiterhin fast alles. "Ich muss zu jeder Mahlzeit nur immer spezielle Medikamente einnehmen, damit mein Körper die Nährstoffe aufnehmen kann." Appetit oder wirklich Freude am Essen habe sie allerdings seit der Magenentfernung nicht mehr. Morgens ein Brötchen und einen Kaffee, Mittags gern Nudeln mit Gemüse, Abendbrot und zwei kleine Zwischenmahlzeiten, auch mal ein Stückchen Kuchen oder etwas Süßes: Zu allem müsse sie sich aber eher zwingen. "Aber ich weiß ja, dass ich etwas essen muss", sagt Horstmann. Fleisch und Wurst esse sie gar nicht mehr. "Da habe ich eine richtige Abneigung gegen entwickelt." Aber zum Glück haben sie ja einen Grund, mittags zu kochen: Ehemann Heinz, der wiederum gern den morgendlichen Einkauf übernimmt. Und auch der jüngste ihrer drei Söhne käme nach der Arbeit gern vorbei. Der 52-Jährige sei Junggeselle und wohne jetzt in einer Wohnung gleich nebenan. Ganz plötzlich habe sie vor vier Jahren Luftnot und Herzschmerzen bekommen. Ihr Hausarzt, der sich immer viel Zeit nähme und sich auch jetzt hervorragend um sie kümmere, habe sie zur Kontrolle ins Krankenhaus geschickt. "Wir haben erst gedacht, es sei etwas mit dem Herzen", berichtet Heinz Horstmann. Vorher sei seine Frau immer noch "total fit" gewesen. Dann sei aber ein Zwerchfellbruch diagnostiziert worden, der eigentlich am 10. Mai, dem Hochzeitstag des Ehepaares, hätte operiert werden sollen. "Als sie dann aber zur Kontrolle noch mal durchgecheckt wurde, hat man das Karzinom im Magen entdeckt", berichtet der Ehemann. Einige Tage im künstlichen Koma Weil es genau in der Mitte lag und die Gefahr zu groß gewesen sei, dass der Krebs komplett streut, sei nur eine Komplettentfernung möglich gewesen. Die Speiseröhre sei direkt mit dem Dünndarm verbunden worden. Zuvor, und auch nach der mehrstündigen OP, standen Chemotherapien an. Aufgrund einer Lungenembolie habe man sie in der Klinik einige Tage ins künstliche Koma versetzt. Sie sei schon sehr schwach gewesen. "Aber ich habe mich wieder aufgerappelt", sagt Ruth Horstmann. Und sie habe das Laufen für sich entdeckt. Jeden Tag, bei Wind und Wetter, stehe sie vor sechs Uhr morgens auf und drehe ihre Runden um den Obersee. Ihren Ehrgeiz, ihre Energie und dass sie mit ihrem Gehwagen locker mit jüngeren Walkern mithalte, bewunderten nicht nur viele deutlich jüngere Sportler, die sie dort regelmäßig trifft. Immer das Gute zu sehen und fest daran zu glauben, helfe in Krisenzeiten, sagen Horstmanns, die jetzt bald ihre Diamantene Hochzeit feiern. "Am 10. Mai vor 60 Jahren haben wir standesamtlich geheiratet, am 15. Juni kirchlich", berichtet Heinz Horstmann. Auch in der Coronazeit hätten sie nie Angst gehabt. Seit fast 60 Jahren leben sie auch in ihrer Mietwohnung am Pfarracker in Schildesche. Seine Ruth sei quasi ein Aschenputtel, ergänzt Heinz Horstmann. Als Kriegswaisin habe sie bei einer Tante gelebt, die ihre eigenen Töchter aber immer bevorzugt habe. "Irgendwann bin ich dann abgehauen", berichtet Ruth Horstmann. Nach einigen Jahren in einer Pflegefamilie habe sie dann in Herne eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht und in einem Diakonissenorden gelebt. Das sei mit Abstand die schönste Zeit damals gewesen. "Wir Mädchen sind dann immer samstags zum Tanzen gegangen." Dort habe sie dann auch ihren Heinz kennengelernt. Neues Hobby: Shoppen in der Bielefelder Altstadt Als seine Eltern dann nach Ostwestfalen zogen, ging das junge Paar mit. Ruth Horstmann arbeitet im Krankenhaus in Gütersloh, Heinz Horstmann als Bäckermeister in Bielefeld. Und brachte seiner Ruth oft feinen Kuchen mit. Das habe sich damals auch an ihrer Kleidergröße bemerkbar gemacht, gibt die 84-Jährige zu. Nach der Magenentfernung habe sie fast 40 Kilogramm abgenommen, trage heute Größe 38. Und habe ein neues Hobby: Shoppen. Am liebsten in der Bielefelder Altstadt. Heinz begleitet sie gerne. "Wenn es schön ist, trinken wir am liebsten draußen am Alten Markt an der Kaffeebar einen Kaffee und genießen das Leben", sagen beide. Sie habe ganz klar noch ein Ziel: 100 Jahre alt zu werden, ergänzt Ruth Horstmann.

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