Bielefelds Oberbürgermeister sieht unsägliche Entwicklungen in der Stadt

Herr Clausen, welche Bilanz ziehen Sie als Oberbürgermeister zur Halbzeit der rot-grün-roten Koalitionsarbeit? Pit Clausen: Die Zusammenarbeit mit der rot-grün-roten Koalition ist sehr konstruktiv. Wir haben gut zueinandergefunden, es gibt ein Vertrauensverhältnis miteinander, in dem wir Projektentwicklungen sehr offen ausdiskutieren und zueinander finden. Das ist in diesen aufgeregten Zeiten keine Selbstverständlichkeit. Ich kenne viele Städte in NRW, in denen es überhaupt keine stabilen Mehrheiten mehr gibt, mit denen sie Stadtentwicklungsprozesse, die immer mehrjährig angelegt sind, aufbauen können. Da haben wir durch eine stabile Koalition, die eine vertrauensvolle Zusammenarbeit mit der Verwaltungsspitze gefunden hat, eine gute Ausgangslage. Zuletzt schien es so, dass Sie mit Entscheidungen ihrer eigenen Fraktion, aber auch mit denen der Koalition etwas fremdeln. Ich sehe mich nicht als Teil der Koalition, sondern als Partner. Ich behalte mir vor, meine eigenen Meinungen zu bestimmten Projekten zu haben. Ich bringe diese Meinung in politischen Debatten ein – nicht immer öffentlich, sondern häufig schon im Vorfeld. Damit kann jeder gut umgehen. Wir haben wirklich eine vertrauensvolle Zusammenarbeit. Ich sehe keinen Grund, mich zu beschweren. Aber im stillen Kämmerlein ärgern Sie sich? Ja klar, aber weniger über Entscheidungen, die in der Koalition laufen. Ich wundere mich eher, was in den Stadtbezirken manchmal los ist oder welcher Ton dort angeschlagen wird. Das ist gelegentlich überraschend und auch unangemessen. Kommen wir zum Koalitionsvertrag und die Versprechen an die Wähler. Haben Sie die eingelöst? Eine Checkliste aus der Schublade zu holen und zu gucken, was wir davon abgehakt haben, finde ich nicht ganz fair. Weil wir in den vergangenen zwei Jahren nicht im Normalzustand arbeiten konnten. Wir hatten Corona, was vieles in den Arbeitsabläufen durcheinander gewürfelt hat. Das hat dazu geführt, dass man Dinge, die man als ganz dringend angehen wollte, zurückstellen musste. Trotzdem werden die Wähler die Arbeit der Koalition an den Versprechen messen. Ja, man muss sich aber auch die zweieinhalb Jahre anschauen, in denen wir die Coronazeit verhältnismäßig gut gemanagt haben. Wir haben jetzt gerade die Arbeit des Krisenstabs beendet und wieder in den Normalgang geschaltet. Angesichts des Ukraine-Krieges und der Folgen für Bielefeld ist der Krisenmodus noch nicht beendet. Ja, die zweite große Herausforderung war die Aufnahme und Versorgung der ukrainischen Flüchtlinge. 4.000 Menschen sind nach Bielefeld gekommen. Das hat am Anfang richtig geruckelt und hier in allen Abteilungen und Ämtern geknirscht. Die Menschen kamen nicht über zwei Jahre verteilt, sondern innerhalb von acht Wochen. Auch das haben wir gut hinbekommen. Es ist ruhig in Bielefeld. Was diese Themen angeht, ist die Lage besser als die Stimmung. Da können wir in Bielefeld stolz sein, wie wir damit umgegangen sind – über alle Parteigrenzen hinweg. Daneben gibt es die großen Überschriften im Koalitionsvertrag: Energiewende, Verkehrswende, das Bauprogramm und soziale Sicherung. Wie sieht es damit aus? In all diesen Bereichen haben wir in den vergangenen drei Jahren deutliche Fortschritte gemacht. Wir sind vielleicht nicht so weit, wie wir uns das gewünscht hätten. Aber in allen Bereichen kann man sehen, dass wir uns auf den Weg gemacht haben und wir kräftig daran arbeiten. Was uns im Moment Schwierigkeiten macht, ist das erwartete Maß der Umsetzungsgeschwindigkeit zu halten. Das hängt auch an der Situation der Fachkräfte und die personalwirtschaftliche Situation, die ich in der Verwaltung habe. Wir bringen nicht 100 Prozent PS auf die Straße wegen der Ausfälle und weil wir nicht alle Stellen besetzen können. Das führt zu unrunden Entwicklungen im Einzelfall bis hin zu unsäglichen Entwicklungen. Welche unsäglichen Entwicklungen sprechen Sie an? Wenn zum Beispiel eine Kita dichtgemacht werden muss, weil das Betreuungspersonal fehlt. Das sind Geschichten, die für die beteiligten Personen katastrophal sind. Diese Themen stehen nicht im Koalitionsvertrag, weil wir das Thema Fachkräftemangel vor zweieinhalb Jahren noch gar nicht auf der Agenda hatten. Jetzt ist es das Riesenthema schlechthin. Aber was ist jetzt mit den Zielen im Koalitionsvertrag? Koalitionsvertrage sind wichtig, weil sie die Grundlage der Zusammenarbeit sind, in dem man sich gegenseitig verabredet, was man zusammen erreichen will und was man sich vornimmt. Aber sie sind auch nicht die Bibel. Wir müssen immer mit der Realität umgehen. Diese Themen haben an Bedeutung gewonnen und andere Themen überholt. Dann läuft eben nicht alles planmäßig. Glauben Sie noch an die Realisierung der Verlängerung der Stadtbahnlinie 1? Ja. Sind Sie sich auch sicher, dass sie kommen wird? Nein. Aber ich glaube daran. Ich bin sicher, dass wir gerade in Zukunft einen stärkeren ÖPNV brauchen. Und das Grundgerüst in einer Großstadt ist der schienengebundene Teil. Wir sind klug beraten, dieses Grundgerüst noch zu erweitern. Das wird nie alle Busse ersetzen, aber dass wir den Süden Bielefelds nicht an das Schienennetz angebunden haben, ist seit Jahrzehnten ein Ärgernis. Ich glaube, dass auch die Mehrheit der Bielefelder und Bielefelderinnen mir an der Stelle folgt. Der Ausbau des Schienennetzes entscheidet auch über den Verlauf der Verkehrswende. Klar. Die Zukunft ist jedenfalls nicht in einer wachsenden Stadt mit immer mehr Beziehungen und Pendler zum Umfeld, dass alle auf ihr Auto setzen – sei es noch so elektrisch angetrieben. Wir werden dann trotzdem den gemeinsamen Verkehrskollaps erleben. Die Zukunft ist, dass wir ein Mix von Mobilitätsnutzung wahrnehmen. Dafür brauchen wir einen attraktiven ÖPNV. Okay, aber der Ausbau der Stadtbahnlinien, ist eine sehr teure Mammutaufgabe. Im Nahverkehrsplan ist beschrieben, wie wir den ÖPNV in Bielefeld noch besser machen können. Das Problem liegt aber in der Tat bei der Finanzierung. Die Investitionskosten für den Ausbau sind schon immens. Da gibt es aber Zuschüsse von Bund und Land. Der laufende Aufwand für den Betrieb ist das eigentliche Problem. Und jede Ausweitung des Angebots erhöht das laufende Defizit. Da lassen Bund und Land uns leider ziemlich im Regen stehen. Wir wissen beispielsweise bis heute nicht, was die Einführung des 49-Euro-Ticktes für uns im Aufwand und Ertrag bedeutet. Das ist ein absolutes Unding. Die Bundespolitik lässt sich abfeiern für vermeintlich billigen ÖPNV, sorgt aber nicht dafür, dass wir die Infrastruktur vernünftig weiterentwickeln und betreiben können. Zur Infrastruktur gehören auch die 6.500 neue Wohnungen, die bis 2025 entstehen sollen. Von diesem Ziel ist Rot-Grün-Rot weit entfernt. Wir können als Stadt Planungsrecht schaffen für den Bau, aber wir können nicht selber in diesem Umfang bauen. Die BGW plant Neubauten, aber auch nicht in dem Umfang, sie schafft etwa 200 bis 300 neue Wohneinheiten pro Jahr und das ist schon sehr gut. Es gibt Kritik, dass die Stadt aber nicht einmal die notwendigen Planungsrechte schafft. Wir haben in den letzten Jahren erhebliche Flächen für Wohnungsbau aktiviert. Wir haben auch den sozialen Wohnungsbau nach vorne getrieben. Was wir im Moment feststellen, ist, dass viele Investoren gerade kalte Füße bekommen angesichts der Entwicklungen in der Bauwirtschaft. Vieles rechnet sich nicht mehr. Ziehen SPD und Grüne denn am gleichen Strang bei der Frage, wie Flächen entwickelt werden? Es mag im Detail immer Streit geben, wie Flächen entwickelt werden. Da kann man sich ja auch drüber streiten. Es gibt gute Argumente, sehr sensibel mit dem Flächenverbrauch umzugehen. Aber es gibt auch eine Einigung in der Koalition, dass wir neue Wohnbauflächen ausweisen wollen. Dann geht es darum, wie man die ausgewiesenen Flächen nutzt. Es wird nicht mehr so sein, dass wir überall Einfamilienhäuser bauen lassen, sondern eher zu Mehrfamilienhäusern gehen. Wie sieht es aus mit den 109 anderen Bauprojekten, die geplant sind. Wir können nicht alles gleichzeitig bauen, wir haben vor wenigen Wochen einen Vorschlag vorgelegt, weil die Projekte priorisiert werden können. Die Politik will diesen Vorschlag noch einmal beraten. Hier wird an auch Enttäuschungen geben. Es gibt beispielsweise Interessierte aus den Stadtbezirken, die jetzt sehen, dass ihr Bauprojekt nicht vor 2030 kommt. Die gute Nachricht ist: Es wird trotzdem kommen. Wenn Sie das alles noch weiter begleiten wollen, müssten Sie 2025 noch einmal antreten. Wann werden Sie sich dazu äußern? Ich habe mir dafür keinen Zeitplan zurechtgelegt. Ich beschäftige mich nicht groß damit, ob ich noch einmal zur Wahl antreten werde. Aktuell geht es mehr darum, wie ich den Laden zusammen und auf Kurs halte. Das macht mir nicht immer, aber doch meistens Spaß. Auf jeden Fall ist noch unglaublich viel zu tun. Das Interview führte Andrea Rolfes

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