Geiselnahme im Bielefelder Gefängnis: Die brutalen Erinnerungen an 1987 - jetzt als Podcast

Bielefeld. Es ist der 17. August 1987, 21.20 Uhr. Jürgen Taubert und ein zweiter Strafvollzugsbeamter müssen die Gefangenen vom Fernsehraum in ihre Zellen bringen. Eigentlich eine allabendliche Routine. Doch an diesem Abend ist alles anders. In diesem Moment beginnt einer der spektakulärsten Ausbruchsversuche aus der Justizvollzugsanstalt (JVA) Bielefeld-Brackwede. Taubert ist damals eine der Geiseln. Noch heute erinnert er sich haargenau an die dramatische Geiselnahme. &bdquo;Als ich mit meinem Kollegen diesen Fernsehraum aufschließe, halten zwei der Gefangenen Sprengkörper in der Hand." Sie geben Anweisung: "Hinlegen und Schlüssel hergeben!" Der Justizbeamte Taubert redet auf die beiden Männer ein, sie sollen den Blödsinn lassen. &bdquo;Mir war klar, dass die uns wahrscheinlich als Geiseln nehmen würden." Einer der Häftlinge wirft einen seiner Sprengsätze auf den Flur, wo die umgebaute Cola-Dose mit einem ohrenbetäubenden Knall detoniert. Der Fall ist nun Thema in einer neuen Episode von "OstwestFälle - dem True-Crime-Podcast der Neuen Westfälischen. Die wichtigsten Fakten zur Geiselnahme im Überblick: Am 17. August 1987 werden der Strafvollzugsbeamte Jürgen Taubert und ein Kollege zu den Geiseln von Günter C. (27) und Alfred S. (28), zwei Insassen mit Fluchtplan. C. und S. stellen Forderungen an die JVA Brackwede: Zwei Millionen Mark, private Kleidung und ein Audi Quattro Allrad als Fluchtauto. Am Nachmittag des 18. Augusts werden die Forderungen der Geiselnehmer erfüllt. Der Fahrer des Fluchtautos ist ein dritter Gefangener, der sich zunächst als Geisel ausgibt. Als das Auto gegen 16.21 Uhr die Schleuse durchfährt, kommt es zum Unfall mit einem weißen Audi, der in das Fluchtauto fährt. Als die Türen sich öffnen, überwältigt das SEK alle Mitfahrer. Alle Beteiligten überleben den Fluchtversuch. Die drei Häftlinge erhalten vom Landgericht weitere Haftstrafen, keiner unter zwölf Jahren. Jürgen Taubert bleibt im Dienst, sein Kollege arbeitet nie mehr für die JVA. Ein Mörder und ein Bankräuber mit einer explosiven Mischung aus Schwefel und Zucker Die beiden Täter, die Insassen Günter C. (damals 27) und Alfred S. (28), hatten die explosive Mischung aus Schwefel (Streichholzköpfe) und Zucker gemischt, ihr Zünder war aus einer Neun-Volt-Block-Batterie gebastelt. Die Häftlinge sind Schwerverbrecher. Alfred S. hatte als Jugendlicher ein Mädchen ermordet und saß inzwischen wegen eines Banküberfalls in Bielefeld in Untersuchungshaft. Sein Komplize Günter C. saß wegen Mordes lebenslang hinter den dicken Mauern der Justizvollzugsanstalt Brackwede ein. Er hatte erst im Februar im Gefängnis in Duisburg einen Ausbruchsversuch samt Geiselnahme unternommen und war mit seinem Komplizen auf der Flucht bei Aachen gestoppt worden. Anschließend hatte man den Häftling nach Bielefeld verlegt – in den Hochsicherheitstrakt C. Zu diesem Zeitpunkt eines der sichersten Gefängnisse Deutschlands. Taubert und sein Kollege legen sich wie befohlen auf den Bauch. C. und S. bringen die übrigen Gefangenen aus dem Fernsehraum ins Treppenhaus. Im Überwachungsraum verfolgen Tauberts Kollegen die gespannte Lage über die Videoanlagen, sie sind also sofort informiert, als C. und S. ihre Forderungen durchgeben: Zwei Millionen Mark, private Kleidung und ein Audi Quattro Allrad als Fluchtauto. Sie bringen die beiden Geiseln in einen Werkraum, an Händen und Füßen gefesselt und Drahtschlingen um den Hals gelegt, auf die Rasierklingen aufgezogen sind. Nächtlicher Umzug in Mini-Zelle der JVA Brackwede Ein böses Wort verliert Taubert über die beiden Täter nicht: &bdquo;Die Häftlinge haben uns ja nicht groß gequält, die haben uns Kaffee gekocht und uns mit Zigaretten versorgt – ich glaube, ich hab' noch nie so viel geraucht wie in jener Nacht." Andererseits ist den beiden Geiseln klar: Wenn die rauswollen, nehmen sie auf das Leben der Geiseln keine Rücksicht. &bdquo;Das waren immerhin beide Leute, die genug auf dem Kerbholz hatten." Die Geiselnahme zieht sich bis zum nächsten Tag. Die Verhandlungen mit dem Einsatzleiter verlaufen "zäh", wie es später in der Zeitung heißt. An Schlafen ist nicht zu denken. Mitten in der Nacht: Umquartierung in einen acht Quadratmeter großen Haftraum, weil sich die Täter dort sicherer fühlen. Die JVA in Brackwede ist längst von zahlreichen Hundertschaften abgeriegelt, das Spezialeinsatzkommando (SEK) der Polizei ist vor Ort und wartet auf den Befehl zum Zugriff. Das Ultimatum der Bielefelder Geiselgangster verstreicht Als Taubert erzählt, wie er die Gelegenheit bekommt, mit seiner Lebensgefährtin zu sprechen, braucht er ein Taschentuch. Er weint. Die Einsatzleitung hatte die Partnerinnen der Geiseln zur JVA geholt, damit sie Taubert und seinem Kollegen am Telefon gut zureden. "Die Polizei will damit verhindern, dass sie in Panik geraten und durch unbedachtes Handeln eine Katastrophe heraufbeschwören", heißt es in der NW. Er erinnert sich, dass er damals darum kämpfte, seine Kinder sehen zu dürfen, die bei der Mutter lebten. &bdquo;Und ich dachte, wenn das jetzt schiefgeht, hab ich die nicht mal wiedergesehen, geschweige denn, mich verabschiedet." Die Geiselnehmer drohen, in dem kleinen Haftraum eine Explosion auszulösen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Um 12 Uhr verstreicht das Ultimatum der Häftlinge. Nötige Abstimmungen zwischen Vollzug, Polizei und Justiz hatten zu viel Zeit in Anspruch genommen. Die Geiselnehmer sind außer sich, schreien ins Telefon. Die Lage ist brenzlig. Zum Glück spüren Taubert und sein Kollege (damals 38 und 34 Jahre alt) keine Konsequenzen. Die angedrohte Explosion bleibt aus. Die Verhandlungen werden fortgeführt. Die Verhandlungen mit den Tätern enden mit Erfolg Mit einigem Erfolg. Die Geiselnehmer rücken zwischendurch von ihrer Forderung nach zwei Millionen Mark ab. Doch dann kann die Polizei doch noch die Summe auftreiben – sie wird per Hubschrauber aus dem Innenministerium eingeflogen. Auch zum Fluchtfahrzeug gibt es Verhandlungsbedarf. Der angebotene Audi 100 passt ihnen nicht. Man einigt sich auf einen Mercedes. Am Nachmittag des 18. Augusts werden die Forderungen der Geiselnehmer dann doch erfüllt. Als Fahrer dient ein dritter Gefangener. Später stellt sich heraus, dass der nur zum Schein als Geisel agiert. Er steckt mit den Tätern unter einer Decke. Taubert und sein Kollege sitzen hinten in dem blaugrauen Wagen, zwischen ihnen einer der Geiselnehmer, der die Drahtschlingen mit den Rasierklingen in der Hand hält. Taubert erinnert sich: "Ich ziehe mir die Schlinge mit den Rasierklingen über den Kopf und stürze raus" &bdquo;Als wir mit dem Auto durch die Schleuse waren, dachte ich, da kommt gleich was." Es ist 16.21 Uhr. Der Wagen fährt raus. Er legt noch 100 Meter zurück. Auf einmal knallt und blitzt es in dem präparierten Fluchtfahrzeug, die Achse blockiert, ein weißer Audi rammt außerdem von links den Mercedes. &bdquo;Und ich höre nur eins: Es macht Klick – die Zentralverriegelung springt auf, ich ziehe mir die Schlinge mit den Rasierklingen über den Kopf und stürze raus." Doch ein SEK-Mann erwartet ihn schon, erkennt ihn aber nicht, weil die Geiselnehmer ihnen vorher private Kleidung übergezogen haben. &bdquo;Ich rufe noch: Vorsicht, ich bin Vollzugsbeamter, da knackt es schon, weil mir der Mann seinen Knüppel über den Kopf gezogen hat." Sanitäter ziehen ihn aus dem Bereich, wo die Geiselnehmer vom SEK überwältigt werden. Die beiden Gangster zünden noch in suizidaler Absicht ihre Sprengsätze, sie überleben mit erheblichen, aber nicht lebensbedrohlichen Verletzungen. Per Hubschrauber geht es ins Krankenhaus. Dort landet auch Jürgen Taubert. Auf der Station wird er gefragt, was man ihm Gutes tun kann. Noch heute weiß er genau, was er geantwortet hat: &bdquo;Also, was ich jetzt gebrauchen könnte, wäre ein ordentliches Pils." Innenminister Herbert Schnoor lobt noch am selben Abend die "hervorragende Leistung der Polizei". Bielefelder Geiselnahme damals als "normal" bewertet Nur vier Wochen lang ist Taubert nach der Geiselnahme krankgeschrieben. Dann kehrt er in den Job zurück, "weil ich ihn gerne gemacht habe", betont der 73-Jährige rückblickend. Seinen Kollegen, die zweite Geisel, trifft der Ausnahmezustand in dieser Nacht härter. "Er ist kurz danach aus dem Job ausgeschieden." Um nicht mehr mit Gefangenen in Kontakt treten zu müssen, sollte er die Besuchsanträge im Gericht erledigen. Das hat er abgelehnt und hat sich verabschiedet, erinnert sich Taubert. Eine gemeinsame Verarbeitung des Erlebten habe nie stattgefunden, so Taubert. Zum letzten Mal haben sich die beiden Kollegen beim Gerichtstermin im Landgericht gesehen, als den Geiselnehmern der Prozess gemacht wurde. "Für uns wurde das damals als normaler Vorgang im Vollzug gewertet." 12 bis 15 Jahre Haft und Streichhölzerverbot in der JVA Bielefeld-Brackwede Günter C., der zuvor bereits im Hochsicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt Brackwede inhaftiert war, wurde 1990 wegen erpresserischen Menschenraubs, Geiselnahme und Gefangenenmeuterei vor dem Landgericht zu 15 Jahren Haftstrafe mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt, Alfred S. zu 13 Jahren und Scheingeisel Hans-Jürgen B. zu 12 Jahren Haftstrafe. Seit dieser Geiselnahme sind in der Justizvollzugsanstalt Brackwede keine Streichhölzer, Rasierklingen und Neun-Volt-Block-Batterien mehr erlaubt. Ganz los wird man die Todesangst nach Geiselnahme nie Als Taubert 2011 pensioniert wird, sagt er nicht ohne Stolz: &bdquo;Ich glaube, das hätten nach so einer Erfahrung nicht viele bis zur Pensionierung durchgehalten." Klaus Jäkel von der Strafvollzugsgewerkschaft erklärte damals: &bdquo;In der Regel haben die Bediensteten nach einem solchen Vorfall posttraumatische Zustände, sind lange krank oder gehen schnell in den Vorruhestand." Taubert erlitt diese Zustände nicht: &bdquo;Ich komme ganz gut damit klar." Vielleicht habe er das auch einem Schützenfest in seiner Heimatstadt Bünde zu verdanken, bei dem er wenige Tage später Freunden und Nachbarn immer wieder davon erzählte. "Die Geschichte ist geradezu aus mir herausgesprudelt." Auch heute geht ihm die Geschichte noch locker von den Lippen. Trotzdem weiß auch er, dass ihm jederzeit die Tränen kommen können, wenn er an damals denkt. Die Todesangst habe er gut irgendwo in seinem Inneren verstecken können. Ganz los werde man die Bilder aber nie.

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