Aggressiver Sexismus in Bielefeld - das sind die Ursachen für "Catcalling"

Bielefeld. Die Initiative &bdquo;Catcalls of Bielefeld“ prangert seit fast drei Jahren verbale sexuelle Übergriffe und Belästigungen in Bielefeld an. Die jungen Aktivistinnen sammeln über Instagram die Erlebnisse von Bielefelderinnen und machen sie auf ihrem Social-Media-Kanal sowie mit Kreide auf den Wegen und Straßen, genau dort sichtbar, wo es sich zugetragen hat. Die widerlichen Berichte nehmen kein Ende. Die Lokalredaktion hat sich auf die Suche nach den Ursachen gemacht und Expertinnen befragt. Alltägliche Belästigungen in Bielefeld &bdquo;Deine Titten hängen raus, Du Schlampe“, ruft ein Mann am Hauptbahnhof. Eine andere Frau wartet nachts auf dem Kesselbrink auf eine Freundin. Da kommen drei Männer auf sie zu und drücken auf die Tränendrüse. Sie bräuchten dringend eine Frau. Als sie abweisend reagiert, öffnet einer von ihnen seine Hose und sagt: &bdquo;Ich hab Eier und ich zeig sie Dir.“ Einer 15-Jährigen offenbart ein älterer Mann um die 60 vor C&A: &bdquo;Um dich ficken zu dürfen, würd ich sogar meine Frau verlassen.“ Es sind widerliche Erlebnisse, die anscheinend alltäglicher sind, als viele glauben. Catcalling zeigt: Weit weg von Gleichberechtigung Diese sexuellen Beleidigungen – sogenannte &bdquo;Catcalls“ – kommen meist völlig unvorbereitet. Eine vorherige Unterhaltung gibt es nur selten. Pia Brauneis ist eine der Gründerinnen der Bielefelder Catcalling-Initiative. Sie betont, dass die &bdquo;patriarchalen Strukturen, in denen wir leben, maßgeblich den Blick auf und den Umgang mit Frauen in unserer Gesellschaft steuern“. Gerade Catcalling zeige, &bdquo;wie weit wir von Gleichberechtigung auch in Deutschland noch entfernt sind“. Diese Art der Belästigung finde fast ausschließlich nur in eine Richtung statt – sie richte sich stets gegen Frauen. Dass Frauen auf diese Weise Männer erniedrigen könnten, komme uns allen total fremd vor. Porno- und Rapper-Duktus als Treiber Die Suche nach den Ursachen ist vielschichtig. Viele Faktoren stärkten diese Gewalt gegen Frauen, sagt Brauneis: "Das fängt in der Sprache an, zeigt sich sicher auch in Gangsta-Rap und Pornos, in der Erziehung – wieso hören alle Mädchen ab einem bestimmten Alter, dass sie den kurzen Rock nicht anziehen können und aufpassen müssen, wie sie nach Hause kommen?“ Catcalling stelle dabei eine Facette dieser Gewalt gegen Frauen dar, die aber viel tiefer in unserer Gesellschaft verankert sei. Toxische Männlichkeit Sind diese Formen der erniedrigenden, männlichen Machtdemonstration denn mehr geworden? Melanie Rosendahl arbeitet seit mehr als 20 Jahren für den Frauennotruf. Sie glaubt nicht an ein Ansteigen solcher Vorfälle: &bdquo;Früher hat sich einfach niemand mit diesen Themen beschäftigt.“ Dass vor allem junge Frauen in der Disco, allein auf dem Heimweg oder allein im Urlaub solche Erlebnisse schilderten, sei nicht neu. Neu sei das Selbstbewusstsein vieler Frauen, die sagen: &bdquo;Ich will das nicht mehr. Sexuelle Belästigung hat einen Teil ihrer Normalität verloren.“ Doch diese mehrfach berichtete &bdquo;toxische Männlichkeit“ zeige auch, dass &bdquo;wir noch nicht so weit sind, wie wir sein sollten“, betont Rosendahl. Ursache: Geschlechterrollen-Stereotypen Sandra Schwark ist promovierte Sexismusforscherin an der Uni Bielefeld. Sie glaubt nicht daran, dass allein der Umgang mit sexistischer Jugendkultur (etwa der frauenverachtenden und homophoben Sprache im Gangsta-Rap) und mit der männerdominierten Pornoindustrie solches Verhalten auslöse. &bdquo;Das wäre zu einfach.“ Dennoch betont auch sie, dass viele Kinder so etwas bereits vor der Entdeckung ihrer eigenen Sexualität sehen, hören und damit auch ein Stück weit toxische männlichen Stereotype vermittelt bekommen. Das Ziel der Täter ist Macht und Erniedrigung Einig sind sich die Expertinnen darüber, dass es den Tätern dabei immer um die Ausübung von Macht gehe. &bdquo;Den Männern geht es nicht darum, mit der Frau nach Hause zu gehen oder ihr ein Kompliment zu machen“, sagt Brauneis. &bdquo;Es geht um die Macht, die sie als Mann spüren, wenn sie Frauen erniedrigen.“ In die gleiche Richtung gehe auch das Verschicken sogenannter &bdquo;Dickpics“, wie Schwark berichtet. Dabei handelt es sich um das unaufgeforderte Zusenden von Fotos des erigierten Penis. Ein verbotenes, aber weit verbreitetes Phänomen in Online-Datingforen, in Handy- oder Internet-Chats. Psychologischer Antrieb: Gruppendynamik Schwark kennt aber noch einen zweiten Auslöser: &bdquo;Oft ist es auch ein Beweisen vor den eigenen Freunden.“ Sie spricht von einer Gruppendynamik unter zumeist jungen Männern, von einer Übererfüllung erwarteter männlicher Stereotype. Diese Typisierungen fingen schon im Kindesalter an: Männer weinen nicht, Männer dürfen keine Gefühle zeigen, Männer müssen stark sein. Und dazu komme dann eine Sicht auf Frauen als Objekte. Kulturschock schwächer als befürchtet Nach der Flüchtlingsbewegung 2015/2016 hatten selbst erfahrene Sozialarbeiter befürchtet, dass Männer aus dem fundamentalistischen arabischen Raum große Probleme haben würden mit unserer Gesellschaft und den Frauen. &bdquo;Sie sehen das erste Mal einen offenen Kuss in der Öffentlichkeit“, sagt ein erfahrener Bielefelder Flüchtlingshelfer. &bdquo;Ich hatte Zweifel, ob alle damit umgehen können.“ Doch rückblickend bewahrheitete sich seine Befürchtung nicht. &bdquo;Es war wichtig, dass wir als Gesellschaft diese Menschen mitnehmen, ihnen Ausbildungsplätze vermitteln.“ Das sei vielfach gelungen. &bdquo;In Bielefeld haben wir das mit großen Erfolg geschafft“, sagt er nicht ohne Stolz. Deshalb habe er in dieser Richtung keinerlei Probleme mitbekommen. &bdquo;Die Flüchtlinge von 2015 seien nicht das Problem.“ Trotzdem gebe es auch hier Vorbehalte. Sexismus und Homophobie seien speziell in den jungen sozialen Medien wie TikTok ein großes Thema. Großer Faktor mangelnde Bildung Aber aus seiner Sicht sei dieses Verhalten kein Problem der (kulturellen) Herkunft, sondern der Bildung. Probleme sehe er insbesondere bei den jungen Flüchtlingen, die während ihrer ein bis zwei Jahre andauernden Flucht plötzlich in Europa auf der Straße leben mussten – etwa in Spanien oder Italien. &bdquo;Dort werden sie zur Kriminalität sozialisiert.“ Sich hier von dieser Sozialisierung wieder zu lösen, falle oft schwer. So ticken die Täter Melanie Rosendahl bestätigt, dass Bildung auch bei schweren Sexualstraftaten einen erkennbaren Einfluss habe. Sexismusforscherin Sandra Schwark beschreibt: &bdquo;Die Täter sind eher jung, sie wurden familiär eher von konventionellen Rollenbildern geprägt und sie verfügen aufgrund ihrer persönlichen Situation eher über ein mangelndes Selbstwertgefühl.“ Was nicht heißen soll, dass Belästigung in gebildeten Kreisen nicht stattfinde, betont Rosendahl. Das habe erst der jüngste Aufschrei in der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften gezeigt, als Erstsemester bei einer sogenannten Kneipenrallye explizit sexistische Spiele und Mutproben über sich ergehen lassen mussten. Expertentipps im Ernstfall Was rät die Expertin vom Frauennotruf Betroffenen, wenn sie &bdquo;gecatcallt“ werden? Auch diese Beleidigungen lösten mitunter ein &bdquo;sehr bedrohliches Gefühl“ aus, das berichteten Frauen insbesondere, wenn der Mann oder die Gruppe nicht locker gelassen und die Frau sogar verfolgt hätten, sagt Melanie Rosendahl. &bdquo;Ich gebe immer den Tipp, laut und schrill zu werden.“ Es sei wichtig, schnell zu reagieren, deutlich &bdquo;Lass das!“ zu sagen oder sogar mit Hilfe eines Schrill-Alarms oder mit einer Anruf-App auf den Mann zu reagieren. &bdquo;Das überrascht in der Regel die Täter und widerspricht ihrem Stereotypenbild.“ Sollte es Zeugen geben, sei es wichtig, diese einzubinden, sie zum Eingreifen zu bewegen: &bdquo;Leider ist die Erfahrung: Je mehr Menschen drum herum stehen, desto weniger helfen von ihnen.“ Die Catcalling-Aktivistinnen verfolgen unter anderem das Ziel, dass auch verbale Übergriffe bestraft werden. &bdquo;Strafrechtlich wird aber ein Körperkontakt vorausgesetzt“, bestätigt Rosendahl.

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