Wie aus 160.000 Bielefeldern plötzlich 320.000 wurden

Bielefeld. Was sagt ein alteingesessener Brackweder, wenn er ins Stadtzentrum fährt? &bdquo;Ich fahre nach Bielefeld!“ Auch 50 Jahre nach der Gebietsreform vom 1. Januar 1973 gibt es bei dem ein oder anderen noch das Denken im lokalen Sprengel. &bdquo;Ich habe Bielefeld immer als Ganzes betrachtet“, sagt dagegen Oberbürgermeister Pit Clausen. Der Sozialdemokrat kam erst in den 80er Jahren zum Studium in die Stadt. Da waren die Geburtswehen von 1973 zwar noch nicht vergessen, man hatte sich jedoch arrangiert mit der neuen Großstadt. Heute sagt Clausen über Bielefeld, dass es zu einer modernen Metropole gewachsen sei. Und, ja, die Stadt gehört mit ihren inzwischen 340.000 Einwohnern zu den 20 größten in Deutschland – und liegt immer noch vor dem Erzrivalen Münster (310.000 Einwohner). Mit ihrer Fläche von 258,8 Quadratkilometern ist sie übrigens größer als Frankfurt. Unter den 20 größten Städten Deutschlands Doch solche Zahlenvergleiche spielten in der Silvesternacht 1972 keine Rolle. Zumindest in den Umlandgemeinden herrschte eher Wehmut vor. Bis auf Schloß Holte-Stukenbrock und Isselhorst gingen die Gebietskörperschaften des alten Landkreises in der neuen Großstadt Bielefeld auf, darunter auch die Städte Brackwede und Sennestadt. Aus dem Altkreis Halle kam die Gemeinde Schröttinghausen hinzu. &bdquo;Freudenböller wird kaum jemand abfeuern“, kommentierte Günter Gerke, damals Leiter der NW-Lokalredaktion, die Fusion mit der kreisfreien Stadt Bielefeld. Auf einmal gab es nicht mehr nur 160.000 Bielefelderinnen und Bielefelder, sondern doppelt so viele. Vorausgegangen war ein langes Ringen um die Eingemeindungen. Bielefeld war nach dem Zweiten Weltkrieg an seine Grenzen gestoßen. Im doppelten Wortsinn. Die Stadt, die zu Kriegsbeginn noch 130.000 Einwohner hatte, musste 30.000 Vertriebene und Flüchtlinge aufnehmen. Es gab keinen Platz mehr für neue Wohngebiete, es gab keinen Platz mehr für neue Industriebetriebe. Die Wirtschaft und die Menschen wanderten ab ins Umland, in die Gemeinden im Kreis Bielefeld. Die Zahlen waren alarmierend. Und doch war Bielefeld kein Einzelfall. Jochen Rath, promovierter Historiker und Leiter des Stadtarchivs, spricht von einer &bdquo;Flurbereinigung“, die in den 60er Jahren in Nordrhein-Westfalen eingesetzt habe. &bdquo;Die Zahl der Kommunen sank bis Anfang der 70er Jahre von 2300 auf 400, die der Kreise von 57 auf 31“, sagt er. Verwaltungen sollten effizienter arbeiten, Gebietsentwicklung großräumiger gedacht werden können. &bdquo;Neue Stadt Bielefeld ist sicher ein Wagnis“ Am Ende bedurfte es eines eigenen Gesetzes, um die Kommunalreform in der Region umzusetzen. Die Stadt wurde Namensgeberin des Bielefeld-Gesetzes, in dem im Oktober 1972 die Eingemeindungen geregelt worden waren. Einer, der sich lange Zeit dagegen gewehrt hatte, dass der Kreis Bielefeld in der Stadt Bielefeld aufging, war übrigens der SPD-Politiker Klaus Schwickert, der später viele Jahre Oberbürgermeister der neuen Großstadt werden sollte. Als Landrat des Kreises Bielefeld stand er der Gebietsreform bis zu deren Umsetzung mindestens reserviert gegenüber. In einem Grußwort zur Geburtsstunde der neuen Großstadt, das die NW am 31. Dezember 1972 veröffentlichte, schrieb er nüchtern: &bdquo;Die neue Stadt Bielefeld ist sicher ein Wagnis.“ Doch Fakten waren eigentlich schon vor dem 1. Januar 1973 geschaffen worden. Bereits 1971 hatte Bielefeld mit Gadderbaum einen sogenannten Gebietsänderungsvertrag abgeschlossen. Weitere 18 solcher Verträge sollten folgen. Darin machte die Großstadt den kleinen Nachbarn große Versprechen. In keiner anderen vergleichbaren Stadt habe es am Ende so viele Frei- und Hallenbäder gegeben wie in Bielefeld, sagt Archivar Rath. Auch die Bildung von Stadtbezirken mit eigenen Bezirksvertretungen war ein Zugeständnis an die eingemeindeten Kommunen. Anfangs gab es zwölf Stadtbezirke, hießen die Bezirksvertretungen noch Bezirksausschüsse. Dann begrenzte das Land die Zahl dieser kleinteiligen kommunalen Gremien einheitlich auf maximal zehn. Anders als andere Städte schöpfte Bielefeld diese Zahl komplett aus und hat damit bis heute so viele Stadtbezirke wie die Millionenstadt Köln. Der Widerstand jedoch hielt mancherorts an. Vor allem die Sennestädter waren gegen die Eingemeindung, war ihre Stadt doch gerade erst auf dem Reißbrett entstanden und galt bundesweit als Vorzeige-Kommune. Fünf Tage vor der Eingemeindung klagten die Sennestädter vor dem NRW-Verfassungsgerichtshof in Münster. Mit dem Bau ihres neuen Rathauses hatten sie begonnen, als eigentlich schon klar war, dass es nicht mehr benötigt würde. Fertig wurde es 1975. Da war die Klage der Sennestädter lange abgewiesen. Ein neues Wir-Gefühl Ein &bdquo;Wir sind Bielefeld“-Gefühl gab es nach dem 1. Januar 1973 noch nicht zwischen Jöllenbeck und Ummeln. Der Detmolder Regierungsvizepräsident Hanns Winter übernahm als Staatskommissar vorübergehend die Amtsgeschäfte des Oberbürgermeisters. Die erste Kommunalwahl in der neuen Großstadt fand im April 1973 statt. Herbert Hinnendahl (SPD), der schon an der Spitze des &bdquo;alten“ Bielefeld gestanden hatte, wurde auch das Stadtoberhaupt des &bdquo;neuen“ Bielefeld. In der Verwaltung mussten Doppelstrukturen abgebaut werden. Wird heute beklagt, dass die Stadt bald 6000 Menschen beschäftigt, waren es vor einem halben Jahrhundert sogar 6200. Fast 900 Straßen mussten umbenannt werden, weil es viele Dopplungen gab. So kommt es, dass in Brake heute viele Straßennamen sehr norddeutsch klingen oder in Sennestadt Straßen nach Flüssen benannt sind. Auch die Post wurde zum Identitätsklauer. Brackwede etwa bekam die Postleitzahl 4800 Bielefeld 14.

Meistgelesen