Bielefelds Oberbürgermeister wehrt sich gegen scharfe Kritik

Durch die Gebietsreform vor 50 Jahren hat sich Bielefelds Einwohnerschaft verdoppelt. Ist im Lauf der Jahrzehnte zusammengewachsen, was zusammengehört? Pit Clausen: Ich glaube, das ist eine Generationenfrage. Die Jüngeren fühlen sich als Bielefelder, ganz gleich, wo in der Stadt sie leben. Manche Ältere fühlen sich vielleicht noch eher als Sennestädter, Brackweder oder Jöllenbecker. Ich bin in den 80er Jahren zum Studium nach Bielefeld gekommen. Für mich war Bielefeld immer Gesamt-Bielefeld. Die Stadt ist kein verschlafenes Provinznest mehr, sondern eine moderne mittlere Großstadt. Der Wirtschaftsstandort hat sich seitdem enorm gewandelt. Vor 50 Jahren war Bielefeld noch mehr Industriestadt, heute ist es vor allem eine Dienstleistungsstadt. Wirtschaft ist ein gutes Stichwort. Die Unternehmer Friedrich-Wilhelm Delius und Eduard Dörrenberg haben sich in diesem Jahr öffentlich sehr kritisch zum Wirtschaftsstandort Bielefeld geäußert. Was antworten Sie diesen Kritikern? Ist Bielefeld nicht wirtschatsfreundlich genug? Als beide Reden gehalten wurden, war ich persönlich nicht dabei. Vor kurzem war ich aber bei der Firma Delius. Da haben wir ein konstruktives Gespräch geführt. Dabei ging es vor allem um den Fachkräftemangel. Dass Bielefeld wirtschaftsunfreundlich sei, habe ich da nicht wahrgenommen. Und ich empfinde das auch nicht so. Es gibt immer wieder Kritik an der Höhe der Gewerbesteuer, aber die bewegt sich weiterhin am unteren Ende der Sätze in vergleichbaren Großstädten. Kritik gab's auch von Einzelhändlern wie André Lösekann oder dem Loom-Chef Jan Tangerding an der Erreichbarkeit der Innenstadt und ihrem Erscheinungsbild. Wie gehen Sie damit um? Da müssen wir räumlich trennen. Mir macht die Altstadt weniger Sorgen als die Bahnhofstraße. In der Bahnhofstraße hat sich auch die Käuferklientel verändert. Das mag auch am Warensortiment liegen. Das ist tendenziell eher niedrigpreisig. Das führt zu Veränderungen in der Frequenz und in der Kundschaft. Wir gehen das Thema an, haben ein City-Team gegründet. Keiner muss glauben, dass das ein Problem ist, das wir innerhalb von wenigen Monaten bewältigen könnten. Es wird kurzfristige Maßnahmen geben, etwa zu Sicherheit und Sauberkeit, aber eben auch langfristige Planungsziele. Sie sprechen das Thema Sicherheit an. Viele kommen gar nicht mehr zum Einkaufen in die Bahnhofstraße oder die Stresemannstraße. Eine junge Szene kommt einfach, um sich dort zu treffen und sich aufzuhalten, aber auch, um dort Drogen zu handeln. Wie wollen Sie das Sicherheitsgefühl stärken? Gemeinsam mit der Polizei betreiben wir die Stadtwache. Wenn sich da neue Hotspots im Umfeld der Bahnhofstraße entwickeln, dann ist es naheliegend, dass wir versuchen, das mit Hilfe der Stadtwache einzugrenzen. Ich kann mir vorstellen, dass wir perspektivisch nach Rücksprache mit der Polizei das Projekt der Stadtwache noch ausweiten und auch mehr Personal einsetzen. Ich glaube, da kommen wir mit der neuen Polizeipräsidentin schnell ins Gespräch. War es aus Ihrer Sicht ein Fehler, den Jahnplatz nicht autofrei zu planen? Da bin ich demütig gegenüber der Politik. Die hat das anders entschieden. Wir haben jetzt eine deutlich geringere Verkehrsbelastung. Der Jahnplatz bleibt aber ein wichtiger Bus-Verknüpfungspunkt und der Ort zum Umstieg auf die Stadtbahn. Die Stadtbahnlinie 1 soll bis Sennestadt verlängert werden. Dort wiederholt sich jetzt aber die Debatte, die 2014 bereits in Heepen geführt wurde, als es um die Linie 5 ging. Viele vor Ort lehnen das Projekt ab. Die Diskussion wiederholt sich, aber die Wucht ist eine andere. Die Situation ist nicht mit heute vergleichbar. In Sennestadt und entlang der Trasse gibt es viele Einzelinteressen. Da wollen Leute keine Flächen abgeben oder die Stadtbahn nicht so nah am Haus haben. Das hat aber nicht diese Wumms-Qualität wie 2014. Wir müssen alle Bedenken ernst nehmen, aber wir wollen schon dafür sorgen, dass Sennestadt noch näher an Bielefeld heranrückt. Ein anderes schwieriges Thema: Hat sich die Stadt beim Energieeinkauf verzockt? Den Begriff würde ich nicht wählen. Ich hab' ihn mal gegoogelt, und man versteht wohl gewerbsmäßiges Glückspiel darunter. Das ist nicht unser Ding. Das Rechnungsprüfungsamt ist jetzt beauftragt, den Vorgang zu überprüfen. Richtig ist, dass wir einen nicht unerheblichen Teil Strom und Gas zu einem Zeitpunkt eingekauft haben, als die Marktpreise besonders hoch waren. Die Versorgungssituation wurde so unübersichtlich, dass niemand garantieren konnte, dass es überhaupt noch etwas zu kaufen gab. Wir mussten aber die Versorgungssicherheit zum Beispiel für Kitas und Schulen sicherstellen. Im Nachgang kann man sagen, hättet ihr doch gewartet. Aber es gab ja im April einen politischen Beschluss, möglichst frühzeitig zu kaufen. Über den Zeitpunkt kann man sich streiten. Aber das wird jetzt ja vom Rechnungsprüfungsamt aufgearbeitet. Da will nicht vorgreifen. Ein Blick auf die Preiskurve zeigt mir aber, dass wir auch im April nicht besser aus der Sache herausgekommen wären. Jetzt hat die Strom- und Gaspreisbremse den Preis gedeckelt. Durch die Wahl des Zeitpunktes für die Order ist nach dem, was ich heute weiß, kein Schaden für die Stadt entstanden. Nicht so gut gelaufen ist auch der Verkehrsversuch Altstadt-Raum. Ja, der ist nicht gut gelaufen. Es gab zwei Fehleinschätzungen. Einmal die rechtliche. Wir sind davon ausgegangen, dass wir uns auf einer sicheren Rechtsgrundlage bewegen. Da hat uns das Verwaltungsgericht eines Besseren belehrt. Deshalb habe ich das gestoppt. Der zweite Fehler liegt im kommunikativen Bereich. Wir haben nicht zu wenig Bürgerbeteiligung gemacht, aber wir haben sie nicht gut gemacht. Wir haben Erwartungen geschürt, die wir nicht einlösen konnten. Die Sperrungen parallel zur Jahnplatz-Baustelle waren auch unglücklich. Man hätte auf die Waldhof-Sperrung verzichten können. Sie war zu diesem Zeitpunkt falsch. Wie groß ist der Schaden, der aus diesem ersten fehlgeschlagenen Versuch entstanden ist? Das ist schon ein Schaden, der nachhängt. Da haben viele potenzielle Käuferinnen und Käufer jeden Tag in der Zeitung gelesen, dass es kaum noch möglich sein soll, in die Stadt zu gelangen. Aber wir können dagegen halten. Bielefeld ist erreichbar. Es gibt ausreichend Parkplätze. Es ist nach wie vor voll in der Stadt. Das war auch während des Verkehrsversuchs nicht anders. Umwege wegen Baustellen sind möglich. Aber die Erreichbarkeit an sich ist nicht infrage gestellt. Diese Diskussion ist zu hart geführt worden und hat dem Image des Einzelhandelsstandorts geschadet. Aber wenn etwas so schief läuft, ist dann nicht auch der OB gefordert, mal mit der Faust auf den Tisch zu hauen und zu sagen, wo es lang gehen soll? Ich habe auf den Tisch gehauen, als die rechtliche Analyse vorlag und den Versuch gestoppt. Aber Sie fragen damit ja auch nach der Führungsrolle des OB. Ich habe ein Führungsverständnis, dass ich mit einem Team, mit den Beigeordneten im Verwaltungsvorstand, die Stadt führe. Dort diskutieren wir. Wir sind auch nicht immer einer Meinung. Aber wir klären die Dinge intern und gehen dann mit einer abgestimmten Meinung nach draußen. Dann muss nicht immer ich voranschreiten, dann müssen das auch die Fachdezernenten kommunizieren. Welchen OB-Typus wollen Sie verkörpern? Es gibt Patriarchen-Typen, die mal eben in der Stadt durchregieren. Das bin ich nicht. Ich bin auch nicht so wie Boris Palmer in Tübingen, der gern ein bisschen Bundespolitik macht. Ich schätze den Kollegen, aber diese Art ist nicht mein Ding. Wo ich Bezüge zur Bundes- oder Landespolitik sehe, versuche ich, mich über mein Engagement im Städtetag einzubringen, und ich glaube, inzwischen mache ich das mit relativ viel Gewicht und prominent. Das ist vielleicht nicht so außenwirksam, aber nachhaltig. Natürlich muss ich die Stadt repräsentieren. Und ich tue das auch sehr engagiert. Ich weiche auch nicht den Themen aus, um die es geht. Ich suche aber nicht gezielt die Bühne, um da mal so richtig etwas rauszulassen. Aber der Eindruck entsteht schon, dass Sie die Öffentlichkeit weniger suchen als früher. Trügt das Gefühl, dass dies Ihre letzte Amtsperiode ist? Darum mach' ich mir noch keinen Kopf. Wir haben ja noch nicht einmal Halbzeit in der Wahlperiode. Ich konzentriere mich auf die wichtigen Themen in den kommenden Jahren. Ich bin noch nicht im Wahlkampfmodus. Kommen Sie noch mal in den Wahlkampfmodus? Ich wiederhole mich. Das heißt, dass ich mir im Moment noch keinen Kopf darum mache. Es ist doch ganz schön, mal nicht im Wahlkampfmodus zu sein und die Themen abzuarbeiten, die anstehen. Was sind die großen Themen in den nächsten Jahren? Corona und die Unterbringung der Geflüchteten sind weiterhin große Herausforderungen. Es geht auch darum, angesichts von Inflation und hohen Energiepreisen wirtschaftliche Schieflagen bei den Menschen zu verhindern. Ich bin froh, dass wir den Etat gut hinbekommen haben. Da gab es unter anderem positive Entwicklungen beim Steueraufkommen. Deshalb können wir auch mit der Erneuerung der Infrastruktur weitermachen. Wir hatten ein 900-Millionen-Programm angekündigt. Das wird jetzt ein Milliardenprogramm werden mit großen Investitionen zum Beispiel beim Schulbau. Aber wir werden das auch vorsichtig angehen. Es muss alles finanzierbar sein. Im Frühjahr stellen wir der Politik vor, wie es um die einzelnen Projekte steht und was wir wann umsetzen können. Das Gespräch führten Andrea Rolfes und Michael Schläger

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