Anwohner todunglücklich bis begeistert: Wie die offene Lutter ein Bielefelder Viertel verändert

Bielefeld. Größer hätte der Kontrast wohl kaum sein können. Zehn Jahre lang war die Ravensberger Straße eine einzige Baustelle, in die sich höchstens Anlieger verirrten. &bdquo;Hier herrschte abends Totenstille“, erinnert sich Anwohnerin Silke Derkum-Homburg. Dann aber änderte sich am 4. August praktisch alles. Mit einem lauten &bdquo;Wasser Marsch!“ gab Oberbürgermeister Pit Clausen das Kommando, der Schieber für die endlich wieder oberirdisch fließende Lutter wurde geöffnet. Und mit dem strömenden Wasser strömten plötzlich auch die Menschen in den Bielefelder Osten. Der in seinem neuen Bett plätschernde Fluss wurde schlagartig eine Attraktion, die Straße phasenweise bis tief in die Nacht hinein eine pulsierende Partymeile. Nicht minder lautstark fiel entsprechend dann auch die Kritik von genervten Anwohnern aus. Vier Monate später hat sich nicht nur die Witterung, sondern auch die Atmosphäre entlang der weiterhin munter plätschernden Lutter spürbar abgekühlt. An dem Fluss nehmen deutlich seltener Passanten Platz, inzwischen sind es eher die Anwohner, die auf der Ravensberger Straße anzutreffen sind. Und diejenigen, die es sich an einem eigens angeschafften Tisch mit Bänken gemütlich machen, ziehen für ihr Quartier mit nun offen fließendem Wasser ein durchweg positives Fazit. &bdquo;Sicherlich gab und gibt es kritische Stimmen“, sagt Anwohner Alexander Weber. Er vermutet, dass etwas mehr als jeder fünfte Bewohner des Viertels eher unzufrieden ist. Auch Silke Derkum-Homburg hatte mit Menschen gesprochen, die über die Veränderung &bdquo;todunglücklich“ waren. &bdquo;Da kamen dann schon Sätze wie ,Hier kann ich nicht wohnen!“ Der mit Abstand überwiegende Großteil der Anwohner hat sich wie auch der Rest der Bielefelder in das Flair des Quartiers verliebt. &bdquo;Die Leute haben sich hier völlig neu zusammengefunden“, sagt Weber. &bdquo;Es gibt ein ganz neues Nachbarschaftsgefühl.“ Wo man sich früher vielleicht auf der Straße noch ,Guten Tag und ,Schönen Abend gewünscht hat, wurde sich nun getroffen, gesprochen und gefeiert. &bdquo;Irgendeiner war immer draußen“, sagt Tameer Ramacher. &bdquo;Man hat eigentlich im Sommer fast sieben Wochen nur draußen gelebt.“ Dass auch zahlreiche Neugierige und Lutter-Fans die Straße bevölkerten, sei nicht so schlimm gewesen, wie oft dargestellt. &bdquo;An den ersten Tagen habe ich schon gedacht: Was ist hier denn los? Eine Neuauflage von Woodstock?“, sagt Norbert Meier vom Modellbaugeschäft Modellbaubogen. Danach habe sich die Lage aber schnell beruhigt. &bdquo;Und die meisten Leute, die hier gesessen haben, waren sehr gesittet“, sagt Ramacher. Einige Anwohner hatten Zettel in ihre Fenster geklebt, auf denen sie um die Einhaltung der Nachtruhe gebeten hatten, was vom Großteil der am Fluss Feiernden auch respektiert worden sei. &bdquo;Einmal kam ein Wagen des Ordnungsamtes durch die Straße und hat über den Lautsprecher um Ruhe gebeten“, sagt Derkum-Homburg. &bdquo;Davon sind sicherlich mehr wach geworden, als von den Leuten.“ Auch die von viele befürchtete Vermüllung des Flussbettes sei weitestgehend ausgeblieben. &bdquo;Da muss man die Stadt wirklich loben, es wird hier ganz toll saubergemacht“, sagt Katrin Stallmann vom Upcycling- und Modegeschäft Tragbar. Hier tragen aber auch engagierte Anwohner mit dazu bei, dass die Kinder mit ihren Keschern in klarem Wasser und nicht im Trüben fischen. Autofahrer und auch Radler benehmen sich, wie sie wollen Bei allem Lob für das neue Quartier gibt es allerdings auch Kritik. Denn neben dem Publikumsverkehr hat auch der Straßenverkehr seit dem &bdquo;Wasser Marsch!“ deutlich zugenommen. Obwohl die Ravensberger Straße eine Spielstraße ist, würden viele rücksichtslos und vor allem zu schnell fahren – und das beschränkt sich nicht nur auf die Autofahrer. &bdquo;Da werden auch schon mal Kinder von Radfahrern von der Straße geklingelt“, sagt Alexander Weber. Zudem habe es vermutlich wegen überhöhter Geschwindigkeit unlängst einen ersten schweren Verkehrsunfall mit einem Verletzten gegeben. Die Anwohner würden sich daher wünschen, dass die Polizei häufiger Präsenz zeigt. Als Wermutstropfen wird auch das vor wenigen Wochen erst installierte Brückengeländer am Parkhaus Hermannstraße gesehen. &bdquo;Der Steg hatte eine so tolle Aufenthaltsqualität, jetzt kann da niemand mehr sitzen“, sagt Silke Derkum-Homburg. Sie befürchtet, dass sich im kommenden Sommer das Publikum dadurch an anderen Stellen mehr drängen wird. Ob und wie voll es zukünftig an der Ravensberger Straße wird, können die Anwohner noch nicht absehen. Die an ihrem neuen Lieblingstisch an der Lutter versammelten Nachbarn freuen sich jedenfalls schon auf die nächste warme Jahreszeit. &bdquo;Das Quartier hat einen großen Sprung nach vorne gemacht“, sagt Alexander Weber. Und vielleicht ist die offen fließende Lutter auch nur der erste Schritt gewesen. Die Anlieger könnten sich weitere Dinge gut vorstellen – etwa ein jährliches Straßenfest. Der 4. August als Jahrestag des &bdquo;Wasser Marsch!“ könnte hier ein gutes Datum sein.

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