Erneuter Suizid in Bielefelder Gefängnis: Wie kann das immer wieder passieren?

Bielefeld. Drei Tage nach seiner Verhaftung hat sich ein Mordverdächtiger in Untersuchungshaft das Leben genommen. Trotz einer regelmäßigen Zellenkontrolle alle 15 Minuten war dies längst nicht der erste Fall, den die Justizvollzugsanstalt Bielefeld-Brackwede in diesem Jahr vermelden musste. Warum kommt es dazu? Zwar habe der Häftling bei der Aufnahme keine Anzeichen für eine Suizidgefahr gezeigt, dennoch werde ein Gefangener, dem schwere Verbrechen wie Mord vorgeworfen werden, in den ersten Tagen einer solchen Inhaftierung engmaschig kontrolliert. Doch dem 38-jährigen Herforder reichte das kurze Zeitfenster zwischen den Kontrollen, um sich lebensgefährlich selbst zu verletzen. Tödliche Bilanz für Mörder und Serienvergewaltiger Erst im Mai war es Justizbeamten gelungen, einen 40-jährigen U-Häftling wiederzubeleben, nachdem er leblos in seiner Zelle gefunden worden war. Der Mann soll in den Niederlanden seine Frau und sein sechsjähriges Kind getötet haben und war dann nach Deutschland geflüchtet. Dort geriet er in eine Zollkontrolle und landete kurz darauf in Auslieferungshaft. Eine ähnliche Reaktion zeigte auch der Assistenzarzt Philipp G., der 2020 wegen der Vergewaltigung von 32 Klinikpatientinnen verhaftet und in U-Haft gelandet war. Auch er hatte bei der Aufnahme beim sogenannten Suizid-Screening nach außen hin keinerlei Anzeichen für eine seelische Krise gezeigt. Er hatte sich sogar für Beschäftigungsmöglichkeiten hinter Gittern interessiert und vermutlich alle Verantwortlichen getäuscht. Die JVA verzichtete bei ihm sogar auf die ständige Beobachtung. Zwei Tage nach seiner Verhaftung erstickte er sich in seiner Zelle und entzog sich so dem Strafverfahren. Verschiedene Möglichkeiten, sich etwas anzutun Im März 2021 tötete sich ein 61-jähriger Häftling in Brackwede in seiner Zelle. Ihm wurde vorgeworfen, auf einem Firmenparkplatz an der Bielefelder Fuggerstraße seiner Ex-Partnerin (46) aufgelauert zu sein und mit einem Hammer auf sie eingeschlagen zu haben. Als er sich und das Opfer mit Benzin überschüttete, konnte ein Zeuge den Täter vertreiben, das Opfer überlebte. Der Beschuldigte erhängte sich knapp drei Monate nach seiner Verhaftung: ein Bilanzsuizid – eine Selbsttötung, die auf einer mehr oder weniger rationalen Abwägung von Lebensumständen basiert. Bei den Suizid-Screenings werden Anzeichen für Suizidalität abgefragt, zum Beispiel, ob der Gefangene schon einmal versucht hat, sich umzubringen. Wer dabei als gefährdet eingestuft wird, kommt ohne jeden gefährlichen Gegenstand (etwa Schnürsenkel oder Stifte) in eine besonders gesicherte Zelle. Doch wer nicht auffällt, hat selbst im Vollzug verschiedene Möglichkeiten, sich etwas anzutun. Gefangene erleben Haftschock Nur selten würden Inhaftierte ihre Suizidgedanken mit dem Anstaltspersonal teilen, sagt die Psychologin Katharina Bennefeld-Kersten, die die Bundesarbeitsgruppe Suizidprävention im Justizvollzug gegründet hat. Nach dem Screening, in der eigenen Zelle, erlebten viele Gefangene einen echten Haftschock. &bdquo;Sie können nicht mehr telefonieren. Sie können nicht mehr irgendwo hingehen und mit irgendwem sprechen. Sie haben aber mit dem Delikt zu tun, und sie wissen nicht, was wird folgen“, erklärt Bennefeld-Kersten die Extremsituation der Betroffenen. Studien zeigen, dass Suizide häufiger in der ersten Phase der Inhaftierung begangen werden. Bei Untersuchungsgefangenen sind die höchsten Suizidraten zu verzeichnen (38 Prozent). 18 Prozent der Taten ereigneten sich noch in der frühen Phase der Strafhaft. Besonders gefährdet sind demnach Gefangene, die wegen eines Tötungsdeliktes (Faktor 2,5), einer Körperverletzung (1,6) oder wegen eines Sexualdelikts (1,5) beschuldigt sind, heißt es vom Gesundheitsministerium zur &bdquo;Suizidprävention im Justizvollzug“. Kritiker bemängeln knappe Personalsituation Seit Jahren kritisieren Beobachter, dass es Gefangenen immer wieder gelinge, sich unbemerkt in der Zelle das Leben zu nehmen. Das gelte für suizidgefährdete Häftlinge wie auch für solche, denen keine Krise anzumerken sei. Für eine effektive Suizidprävention mangele es in den Gefängnissen an Personal, besonders während der Nachtschichten sei es eklatant. Um alle gefährdeten Häftlinge in den nötigen Zeitabständen kontrollieren zu können, müssen sich die Justizbeamten ziemlich sputen. Die Linken kritisieren im Bundestag, &bdquo;dass die Eingangsuntersuchung nicht ausreicht, um eine akute Suizidgefährdung der Inhaftierten feststellen zu können.“ Die Gewerkschaft Strafvollzug glaubt allerdings nicht, dass sich Suizide durch schärfere Kontrollen in der Haft verhindern lassen. Vielmehr fehle es an der nötigen Zahl von Behandlungsmöglichkeiten. Insbesondere für die steigende Zahl psychisch auffälliger Häftlinge gebe es in den Justizkrankenhäusern nicht ausreichend Therapieplätze. Es brauche dringend eine verbesserte medizinische und psychosoziale Versorgung. Künstliche Intelligenz oder illegaler Eingriff in die Privatsphäre Versuche, Häftlinge mit künstlicher Intelligenz (KI) zu überwachen und auf diese Weise suizidale Verhaltensmuster schnell und frühzeitig zu erkennen, hatte das Justizministerium NRW mit einem Forschungsprojekt 2019 angestoßen. Seitdem ist davon nichts mehr zu erfahren gewesen. Für ein vergleichbares KI-Pilotprojekt in der JVA Oldenburg wurde im Juli 2022 eigens eine dafür nötige Gesetzesnovelle in Niedersachsen verabschiedet. Ob diese Form der Dauerüberwachung überhaupt gesetzeskonform ist, zweifeln viele an. Anmerkung der Redaktion: Sollten Sie sich von besonderen Lebensumständen betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte die Telefonseelsorge. Unter der kostenlosen Hotline Tel. (08 00) 111 0 111 oder Tel. (08 00) 111 0 222 erhalten Sie 24 Stunden am Tag Hilfe und Beratung. In Bielefeld erreichen Sie außerdem den sozialpsychiatrischen Dienst der Stadt (werktags von 8 bis 15 Uhr) unter Tel. (05 21) 51 25 81 sowie den Krisendienst Bielefeld (werktags von 18 bis 7.30 Uhr, an Wochenenden und Feiertagen rund um die Uhr) unter Tel. (05 21) 329 92 85.

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